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Sexualisierte Belästigung im Hochschulkontext: Herausforderungen im Umgang mit einem unterschätzten Problem
Dr. Wiebke Schoon, Stipendiatin bei Postdoc Plus
Sexualisierte Belästigung im Hochschulkontext ist kein Randphänomen. Laut der europäischen UniSAFE-Studie berichten rund ein Drittel der Studierenden und des wissenschaftlichen Personals von solchen Erfahrungen (Lipinsky et al., 2022). Dennoch wird erstaunlich wenig darüber gesprochen. Gerade an einer Institution, die sich als aufgeklärt, liberal und reflektiert versteht, fällt der Umgang mit dem Thema augenscheinlich schwer. Das liegt auch daran, dass eine Auseinandersetzung mit übergriffigem Verhalten im universitären Betrieb mitunter eine kritische Betrachtung bestehender Machtstrukturen, unklarer Verantwortlichkeiten und struktureller Blindstellen erfordert.
Grundsätzlich kann jede*r von sexualisierter Belästigung betroffen sein. Studien zeigen allerdings, dass insbesondere weiblich gelesene und marginalisierte Personen deutlich häufiger von sexualisierten Übergriffen im Hochschulkontext berichten (Lipinsky et al., 2022; Vladutiu et al., 2011). Am häufigsten schildern Betroffene grenzüberschreitendes Verhalten durch Mitstudierende, aber auch Professor:innen, Tutor:innen oder wissenschaftliche Betreuer:innen werden in Studien genannt, insbesondere von weiblichen Betroffenen (Feltes et al., 2012; Lipinsky et al., 2022). Erfahrungen sexualisierter Belästigung können weitreichende Folgen haben: Neben Beeinträchtigungen der akademischen Leistung und des psychischen Wohlbefindens berichten Betroffene teils vom Abbruch des Studiums oder – im Falle von Beschäftigten – vom Rückzug aus dem akademischen Sektor (Feltes et al., 2012; Lipinsky et al., 2022).
Das Vorkommen und der Umgang mit sexualisierter Belästigung an Hochschulen sind eng mit den vorherrschenden strukturellen und systemischen Rahmenbedingungen verknüpft (Bondestam & Lundqvist, 2020). Hervorzuheben sind hier vor allem bestehende Machtgefälle, ausgeprägte Hierarchien, die (Re-)Produktion von Geschlechterstereotypen sowie ein oftmals idealisiertes Selbstverständnis von Hochschulen. Studierende sind häufig in akademische und prüfungsbezogene Abhängigkeiten eingebunden, Beschäftigte stehen in dienstlichen oder vertraglichen Abhängigkeitsverhältnissen, und Promovierende sind auf die Unterstützung ihrer Doktormütter oder -väter angewiesen. Diese Konstellationen führen dazu, dass das Ansprechen oder Melden von Vorfällen mit erheblichen Hürden verbunden ist (Vladutiu et al., 2011). So ist insbesondere die Angst, durch eine Meldung Nachteile zu erfahren, unter Betroffenen weit verbreitet (Löfgren et al., 2025). Hinzu kommt, dass viele sich unsicher sind, ob das, was sie erlebt haben, überhaupt als sexualisierte Belästigung gilt (Hagerlid et al., 2023; Feltes et al., 2012). Dabei umfasst sexualisierte Belästigung weit mehr als das, was man auf den ersten Blick damit verbindet. Sie kann sich in Blicken, Kommentaren und Berührungen äußern, aber auch in übergriffigen Nachrichten, Bildern und Sprüchen. Die Grenzen zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten sind dabei allerdings nicht immer eindeutig, was eine Einordnung der Erfahrungen und das Sprechen darüber zusätzlich erschweren kann (Hagerlid et al., 2023).
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass sich laut UniSAFE lediglich 7 Prozent der betroffenen Studierenden überhaupt an eine Anlaufstelle wenden. Bei Beschäftigten liegt die Quote mit 23 Prozent zwar höher, bleibt aber dennoch niedrig (Lipinsky et al., 2022). Ein Grund dafür ist auch die unklare Rechtslage: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bildet die rechtliche Basis für den Umgang mit sexualisierter Belästigung, ist jedoch in erster Linie auf Beschäftigte zugeschnitten. Es greift somit vor allem bei Vorfällen zwischen Beschäftigten oder zwischen Beschäftigten und Studierenden. Doch selbst in diesen Fällen werden schnell Grenzen rechtlicher Maßnahmen deutlich: Dies zeigt ein aktueller Fall der Universität Göttingen, in welchem ein disziplinarrechtlich belangter Professor trotz nachgewiesener sexualisierter Belästigung gegenüber neun Betroffenen im Beamtenverhältnis verbleiben durfte, obwohl die Universität eine Entlassung angestrebt hatte. Stattdessen wurde der Professor um zwei Besoldungsgruppen herabgestuft und erhält für fünf Jahre ein gekürztes Gehalt (Norddeutscher Rundfunk, 2025).
Während in solchen Fällen zumindest grundsätzlich rechtliche Handlungsoptionen bestehen, sind die Möglichkeiten für Studierende, die Übergriffe durch Mitstudierende erleben, stark eingeschränkt, da sie in der Regel nicht unter den Schutzbereich des AGG fallen (Kocher & Porsche 2015; Pantelmann & Wälty 2023). Dies wiegt umso schwerer, da grenzüberschreitendes Verhalten durch andere Studierende am häufigsten von Betroffenen berichtet wird (Feltes et al., 2012; Lipinsky et al., 2022). Angesichts der unzureichenden rechtlichen Grundlage berufen sich viele Hochschulen vor allem auf interne Richtlinien oder Verhaltenskodizes. Diese legen zwar Regeln für das soziale und fachliche Miteinander im Hochschulalltag fest, bieten jedoch keine rechtlich verbindliche Grundlage im Umgang mit Übergriffen unter Studierenden. Das kann zu erheblicher Unsicherheit führen, da Zuständigkeiten und Abläufe je nach beteiligten Personen stark variieren können. Hinzu kommt, dass Betroffene oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können (Hagerlid et al., 2023).
Das liegt auch daran, dass es vielerorts an spezialisierten Anlaufstellen mangelt. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2021 zeigte, dass nur drei von etwa 90 untersuchten deutschen Hochschulen über eine solche Stelle verfügten (Schüz et al., 2021). Zwar wurden in den letzten Jahren einige Angebote ausgebaut, doch vielerorts fehlen nach wie vor niedrigschwellige Beratungs- und Meldemöglichkeiten. Gerade diese sind allerdings entscheidende Unterstützungsangebote für Betroffene und könnten die Meldewahrscheinlichkeit maßgeblich erhöhen (Bondestam & Lundqvist, 2020; Schüz et al., 2021). Nicht zuletzt beschränkt sich der Umgang der Hochschulen mit sexualisierter Belästigung mitunter auf ein individuelles Fallmanagement. Die Adressierung struktureller Ursachen und eine offene Diskussion bleiben dabei oft aus, mutmaßlich auch, um den Ruf der Institution zu schützen. (Bondestam & Lundqvist, 2020). Das erschwert nicht nur wirksame Prävention, sondern auch die Entwicklung einer klaren Haltung im Umgang mit sexualisierter Belästigung.
Fragt man Studierende, wird schnell deutlich, was sie sich wünschen: Klare und transparente Informationen zum Thema sexualisierte Belästigung, am besten schon in der Orientierungswoche. Darüber hinaus eindeutige (anonyme) Meldewege und konkrete Ansprechpersonen, regelmäßige Schulungen für Lehrende und eine Hochschule, die sich selbst kritisch hinterfragt und anerkennt, dass sexualisierte Belästigung kein Randphänomen ist, sondern ein systemisch bedingtes Problem, welches auch akademische Räume betrifft (Löfgren et al., 2025; Hagerlid et al., 2023).
Der Anspruch der Universität, ein Ort des offenen und respektvollen Lernens sowie der Wissensproduktion zu sein, lässt sich nur erfüllen, wenn soziale Rahmenbedingungen und Grenzen mitgedacht werden. Zukünftig müssen Hochschulen nicht nur systematischer und mit stärkerem Fokus auf strukturelle Zusammenhänge auf sexualisierte Belästigung reagieren, sondern auch aktiv Prävention betreiben, ihr institutionelles Selbstverständnis hinterfragen und versuchen, rechtliche Lücken angemessen zu adressieren.
Dr. Wiebke Schoon ist Stipendiatin bei Postdoc Plus und am Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin unf Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) unter der Leitung von Prof. Peer Briken als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ziel ihres künftigen Forschungsvorhabens ist es, sexualisierte Belästigung an deutschen Universitäten umfassend zu untersuchen – im Erleben, in der Wahrnehmung und im Handeln. Dabei werden sowohl qualitative als auch quantitative Methoden eingesetzt, unter besonderer Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven (z.B. Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, ethnische oder soziale Herkunft, Vorliegen von chronischen Erkrankungen). Untersucht werden sollen auch die Folgen für das Wohlbefinden und die akademische Entwicklung Betroffener sowie strukturelle Bedingungen, die Meldeverhalten und institutionellen Umgang beeinflussen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Wirksamkeit bestehender Interventionsmaßnahmen sowie auf Formen sexualisierter Belästigung im digitalen Raum. Intersektionale Perspektiven wurden im Hinblick auf sexualisierte Belästigung im Hochschulkontext bisher kaum berücksichtigt, deshalb wird dort ein besonderer Fokus liegen. Der Plan ist, für das Projekt sowohl mit Studierenden, aber z.B. auch Gleichstellungsbeauftragten und anderem Universitätspersonal zu sprechen.
Dr. Wiebke Schoon war von 2021-2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im EU-weiten Projekt „Sexual harassment in Academia“. Leitung des Projekts war Prof. Charlotta Löfgren von der Malmö University. Für das Projekt wurden Interviews mit Studierenden (N=85) auf Bachelor, Master und Doktorand:innen-Level durchgeführt (n=15 davon in Hamburg). In den Interviews ging es um die Erfahrungen der Teilnehmenden zu sexualisierter Belästigung, aber auch um Annahmen und Einstellungen zum Thema und themenverwandten Dingen wie Umgang mit Erfahrungen, Anlaufstellen und Meldeverhalten, psychische Belastungen, Prävention etc. Aus dem Projekt entstanden 2 Publiaktionen:
Hagerlid, M., Štulhofer, A., Redert, A., Jakić, I., Schoon, W., Westermann, M. et al. (2023). Obstacles in Identifying Sexual Harassment in Academia: Insights from Five European Countries. In: Sex Res Soc Policy, S. 1–15. DOI: 10.1007/s13178-023-00870-8.
Löfgren, C., Lilja, M., Hagerlid, M., Schoon, W., Jakić, I., Deverchin, C., & Westermann, M. (2025). University Support and Prevention Needs for Sexual Harassment : What Do European Students and Doctoral Students Ask For? Sexuality & Culture, 29(2), 710–733. https://doi.org/10.1007/s12119-024-10294-0.
Universität Hamburg: Anlaufstelle und Kontakt bei sexualisierter Belästigung
Literatur:
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. (2006). https://www.gesetze-im-internet.de/agg/
Bondestam, F., Lundqvist, M. (2020). Sexual harassment in higher education – a systematic review. In: European Journal of Higher Education 10 (4), S. 397–419. DOI: 10.1080/21568235.2020.1729833.
Feltes, T., List, K., Schneider, R. & Höfker, S. (2012). Gender-based Violence, Stalking and Fear of Crime. Country Report Germany. EU-Project 2009 - 2011. Ruhr-Universität Bochum. Online verfügbar unter www.gendercrime.eu.
Hagerlid, M., Štulhofer, A., Redert, A., Jakić, I., Schoon, W., Westermann, M. et al. (2023). Obstacles in Identifying Sexual Harassment in Academia: Insights from Five European Countries. In: Sex Res Soc Policy, S. 1–15. DOI: 10.1007/s13178-023-00870-8.
Kocher, E. & Porsche, S. (2015). Sexuelle Belästigung im Hochschulkontekt - Schutzlücken und Empfehlungen. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zuletzt geprüft am 10.07.2025.
Lipinsky, A., Schredl, C., Baumann, H., Humbert, A. L., Tanwar, J., Bondestam, F., Freund, F. & Lomazzi, V. (2022). UniSAFE Survey – Gender-based violence and institutional responses. GESIS. https://doi.org/10.7802/2475.
Löfgren, C., Lilja, M., Hagerlid, M., Schoon, W., Jakić, I., Deverchin, C., & Westermann, M. (2025). University Support and Prevention Needs for Sexual Harassment : What Do European Students and Doctoral Students Ask For? Sexuality & Culture, 29(2), 710–733. https://doi.org/10.1007/s12119-024-10294-0.
Norddeutscher Rundfunk. (2025, 26. Juni). Gerichtsurteil bestätigt: Professor aus Göttingen bekommt weniger Geld. NDR. https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/gerichtsurteil-bestaetigt-professor-aus-goettingen-bekommt-weniger-geld,professor-100.html
Schüz, H., Pantelmann, H., Wälty, T. & Lawrenz, N. (2021). Der universitäre Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt. Eine Bestandsaufnahme. Open Gender Journal, Vol. 5 (2021): Open Gender Journal. DOI: 10.17169/OGJ.2021.120.
Vladutiu, C. J., Martin, S. L. & Macy, R. J. (2011): College- or university-based sexual assault prevention programs: a review of program outcomes, characteristics, and recommendations. In: Trauma, violence & abuse 12 (2), S. 67–86. DOI: 10.1177/1524838010390708.
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