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#Kultur

Sieben Jahre danach

Johannes Ender, Regisseur, stART.up-Alumnus

Die warmen Abende mit meiner Familie in Damaskus, im Frühling, vermisse er am meisten, erzählt Ashraf. Da ist er oft mit seiner Familie und seinen Freunden auf den Dschabal Qasyun hinaufgefahren. Von diesem Berg aus kann man über ganz Damaskus blicken, bis zum Horizont, sagt er. Kurz vor der Abenddämmerung, wenn das Licht über der Stadt gold wird und dann violett. Wenn die Schwalben über den Himmel jagen und die Lichter der Stadt unten im Tal zu funkeln beginnen. Wenn der Adhan, der Ruf des Muezzins, aus hunderten, knarzenden Lautsprechern aufsteigt, leicht versetzt, dissonant, blechern – und trotzdem bezaubernd. Sie haben dann immer einen riesigen Picknick-Korb mitgenommen, bis obenhin vollgestopft mit Essen und Süßem und Brot. Oft waren es sogar zwei. Und etliche Taschen und Tüten dazu. Seine Mutter hatte immer Angst, dass es nicht reicht, dass irgendwer aus der Familie hungrig zurückbleibt. Seine Frau auch, aber sie war nicht ganz so besessen wie seine Mutter in dieser Angst. Da saßen sie dann auf mitgebrachten Decken am Hang, wie unzählige andere Familien auch, mit Onkeln und Tanten und Neffen und Nichten und Kindern. Und haben gegessen, gelacht, geredet, gestritten. Bis tief in die Nacht. Bis die Lichter im Tal nicht mehr zu unterscheiden waren von den Sternen am Himmel – jetzt nicht mehr violett oder gold, sondern samtig und schwarz.

Jetzt sitzt Ashraf allein auf dem Sofa in der kleinen Wohnung am Stadtrand von Kiel. Er ist seit fast fünf Jahren in Deutschland. Geflüchtet. Ein ‚Flüchtling’. Das Wort war eines der ersten Worte, die er gelernt hat auf Deutsch. Seine Mutter, erzählt er, wollte nicht weg aus Damaskus. Sie sei schon alt, und sie könne nicht fortgehen. Könne nicht weg von hier, ihrer Heimat. Aber Ashraf, seine Frau Noor und die beiden Kinder, Amal und Basel, die müssten sich auf den Weg machen. Und zwar jetzt, sofort, solang es noch ginge. Seine Mutter schob sie regelrecht raus aus der Tür.

Die erste Station auf der Flucht war Ägypten, hier lebte die Familie einige Jahre in elenden Verhältnissen am Stadtrand von Alexandria. Über das Mittelmeer sollte es dann weitergehen nach Europa, in einem verrosteten Boot, völlig untauglich für die Überfahrt. Nur ich habe es geschafft, nur ich kam an, meine Familie nicht, sagt Ashraf und blickt schweigend in seinen Tee. Darüber will er jetzt nicht weiter sprechen. Beim nächsten Mal dann, versichert Ashraf. Jetzt bin ich hier, sagt Ashraf, und allein. Viel zu lang schon. Ich mag Deutschland, aber bleiben für immer möchte ich nicht. Zurück kann ich auch nicht. Also bleib ich wohl hier.

Ashraf ist einer von 43 Geflüchteten aus Syrien, mit denen ich mich über ein Jahr hinweg immer wieder getroffen habe, um ihren Geschichten zuzuhören. Ashraf hat seine Geschichte mit mir geteilt. Damit die Leute sie hören, sagt Ashraf, und damit die Leute wissen, wie schön Syrien war, vor dem Krieg.

Im Rahmen eines Recherche-Projekts für das Theater über die Langzeiterfahrung von Geflüchteten habe ich Syrerinnen und Syrer kennengelernt, die jetzt seit etlichen Jahren in Deutschland leben, und zahlreiche Interviews mit ihnen geführt. Ich habe mit ihnen über ihre Erfahrungen gesprochen, hier in Deutschland, über das, was sich im Laufe von fünf oder sieben Jahren für sie hier geändert hat, über ihr Ankommen und ‚Fremdeln’, über ihr früheres Leben in Syrien, über die Flucht, über neue Wurzeln und über ihre Sicht auf die Dinge. Wir haben uns kennengelernt. Und nach und nach haben sie mich teilhaben lassen an ihren Erfahrungen. Haben mir erzählt von dem, was sie erlebt haben, von ihren Hoffnungen, ihren Erwartungen, ihren Ängsten und all den riesigen Welten, die sich hinter dem Beamten-deutschen Begriff ‚Langzeitgeflüchtete’ verbergen. Ursprünglich waren die Interviews und Gespräche als ein kleiner Teil eines Theaterabends zu einem Text der rumänischen Autorin Herta Müller geplant. Aber über diesen Rahmen sind die Begegnungen und die Geschichten der Geflüchteten aus Syrien längst hinausgewachsen. Zunächst war das Projekt auf ein halbes Jahr angelegt. Ein Jahr dauert es mittlerweile, mindestens ein weiteres wird es noch dauern. Der Gesprächs- und Redebedarf ist gigantisch und wird immer noch größer. Und die Geschichten verdienen es, gehört zu werden. In welcher Form diese Geschichten der Syrerinnen und Syrer letztendlich erzählt werden sollen, weiß ich noch nicht sicher, ob als Prosa-Text, als Sachbuch oder Theaterabend. Aber eines ist klar, erzählt werden müssen die Geschichten dieser Menschen, damit sie nicht als bloße Zahlen in einer Statistik enden. Damit Ashraf und Noor und Basel und Amal ihre Geschichte erzählen.

Johannes Ender arbeitet als freischaffender Regisseur. Er absolvierte mithilfe der Bayerischen Begabtenförderung und der Trinity College Scholarship ein Studium in Altphilologie, Philosophie und Arabistik an der University of Oxford, an der Sorbonne-Paris IV und der Universität Damaskus. Nach dem Master-Abschluss folgten in den nächsten Jahren etliche Regieassistenzen und Hospitanzen an verschiedenen Theatern in Augsburg, Oxford, London, Damaskus und Paris sowie jeweils längere Stationen in der Entwicklungszusammenarbeit bei NGO-Projekten in Nepal, Uganda und Syrien. Für ein Regie-Studium an der Theaterakademie Hamburg kehrte er nach Deutschland zurück, gewann im Anschluss an seine Diplom-Inszenierung den „Start off“-Wettbewerb der Hamburgischen Kulturstiftung und war Stipendiat der Claussen-Simon-Stiftung im ersten stART.up-Jahrgang. Er zeigte Arbeiten auf Kampnagel Hamburg, am St. Pauli Theater Hamburg, in der freien Szene in Hamburg und Berlin, am Barbican Centre London, am Iranshahr Theater Teheran, am Theater Heidelberg, am Deutschen Theater Göttingen, in der Muffathalle München, am Theater Salzburg, am Hamburger Schauspielhauses, am Thalia Theater Hamburg, am Theater Kiel, bei der Ruhrtriennale und am Staatsschauspiel Dresden.
Gefördert durch den Fonds „Kunst schafft Perspektive“ der Claussen-Simon-Stiftung setzt sich Johannes Ender ab 2021 für zwei Jahre mit den Langzeiterfahrungen und -folgen von syrischen Geflüchteten in Deutschland auf persönlicher und literarischer Ebene auseinander. 

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