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#Kultur #WissensWerte

„Gemeinschaft ist mehr als die Summe von Begegnungen“ – Residenzen als Mittel der Künstler:innenförderung und des internationalen Austauschs

Dr. Jenny Svensson, Bereichsleitung Kunst & Kultur

Die Claussen-Simon-Stiftung realisiert seit 2024 zwei Residenzprogramme in Kooperation mit zwei Kulturinstitutionen in Paris. Im März 2024 war die Zeichnerin und Künstlerin Xiyu Tomorrow als Residentin in der Maison Heinrich Heine zu Gast, im März 2025 gastierte dort der Künstler und Illustrator Andrés Muñoz Claros. Mit dépARTS, dem Stipendienprogramm der Claussen-Simon-Stiftung, residierten im Herbst 2024 die Bildende Künstlerin Katja Pilipenko und der Fotograf Maik Gräf für drei Monate in der Fondation Fiminco. Beide Residenzen werden in den nächsten Jahren fortgeführt. Dr. Jenny Svensson, Bereichsleitung Kunst & Kultur, hat sich mit Katharina Scriba, Direktorin der Fondation Fiminco, und Dr. Franziska Humphreys, Direktorin der Fondation de l‘Allemagne – Maison Heinrich Heine, für ein Gespräch in Paris getroffen. Mit den Residenzstipendien wird nicht nur die internationale Profilierung von jungen Künstler:innen unterstützt, sondern auch eine enge Verbindung zu Pariser Kulturinstitutionen geknüpft. Dr. Jenny Svensson spricht mit ihren Gesprächspartnerinnen über die Besonderheiten und Chancen, die Residenzen für Kulturakteur:innen bieten, und über die Herausforderungen nachhaltiger Künstler:innenförderung.

Dr. Jenny Svensson: Die ersten Durchgänge unserer gemeinsamen Residenzprogramme waren sehr erfolgreich, und wir freuen uns, dass wir auch in Zukunft beide Programme weiterführen und ausbauen werden. Franziska, wie ist es zu der Kooperation der Maison Heinrich Heine mit der Claussen-Simon-Stiftung gekommen?

Dr. Franziska Humphreys: Die Idee für das Residenzprogramm wurde von Prof. Dr. Regina Back von der Claussen-Simon-Stiftung, an uns herangetragen, als ich 2023 neu in der Maison Heinrich Heine angefangen habe. Ich habe diesen tollen Impuls für eine Kunstresidenz sehr gern aufgenommen, da ich mir vorgenommen hatte, grundsätzlich mehr Residenzen im Haus zu schaffen, sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische. Darum bin ich sehr dankbar für diese Zusammenarbeit, weil sie uns mit einem großen Vertrauensvorschuss die Möglichkeit gegeben hat, ein neues Format zu denken und umzusetzen.

Dr. Jenny Svensson: Bei der Kooperation mit der Fondation Fiminco kam die Anfrage von euch, Katharina, vermittelt über die Stadt Hamburg, richtig?

Katharina Scriba: Unsere Idee war, die von uns angebotenen Residenzen zu öffnen und das Programm noch internationaler zu machen. In meiner ehrenamtlichen Rolle als HamburgAmbassadorin wollte ich unbedingt ein Residenzprogramm für Hamburger Künstler:innen aufsetzen. Zu diesem Thema war ich mit der Stadt Hamburg im Gespräch, doch es gab trotz großen Interesses nicht die passenden finanziellen Möglichkeiten. Als ich mit Prof. Dr. Regina Back, der Geschäftsführenden Vorständin der Claussen-Simon-Stiftung, in Kontakt getreten bin, hatten wir sofort einen guten Austausch. Dabei erzählte sie auch von der Kooperation mit der Maison Heinrich Heine. Aufgrund meiner langen Zeit am Goethe-Institut in Paris fand ich es schön, dass sich da ein Kreis zwischen deutschen Mittlerinstitutionen schließen könnte. In Anbetracht der internationalen Ausrichtung der Fondation Fiminco, meiner eigenen Biografie im deutsch-französischen Austausch und der Verbindung zu Hamburg finde ich es großartig, mit der Kooperation etwas in Leben zu rufen, was es noch nicht gab, aber wofür ein echter Bedarf besteht.  

Dr. Jenny Svensson: Auf welche Art betreibt ihr mit euren Institutionen jeweils Künstler:innenförderung? Was ist euch wichtig, und welchen Ansatz verfolgt ihr dabei?

Dr. Franziska Humphreys: Die Maison Heinrich Heine hat in ihrer DNA die deutsch-französischen Beziehungen. Für uns trägt die Zusammenarbeit mit der Claussen-Simon-Stiftung dazu bei, das deutsch-französische Verhältnis zu stärken – und es gleichzeitig zu öffnen. Mit der Residenz als neuer Komponente im Programm beginnen wir als ein Haus, das nicht primär als Ausstellungsraum konzipiert ist, zur Förderung von Künstler:innen beizutragen. Wir denken darüber nach, wie sich das in unserem Anliegen verankern lässt und wie unser Programm grundsätzlich nachhaltiger gestaltet werden kann. Damit meine ich das Zusammenbringen verschiedener Formate wie Ausstellungen, Workshops, Tagungen, so dass es Synergien gibt und sich Echos bilden. Wir stehen mit der Residenz am Anfang, und es gibt noch sehr viel Potenzial, das wir mit jeder Künstler:inpersönlichkeit neu ausloten möchten. Das macht das Ganze sehr spannend, weil es ein sehr dynamischer Prozess ist.

Dr. Jenny Svensson: Die Maison Heinrich Heine ist neben einer Kultureinrichtung auch ein Wohnheim für über hundert internationale Studierende. Wie profitiert die/der Resident:in von dem Umfeld?

Dr. Franziska Humphreys: Es ist unser Wunsch, dass die Künstler:innen hier in vielerlei Hinsicht Anregungen finden, Inspiration, Austausch, vielleicht auch unerwartete Netzwerke. Durch die bunte Mischung von Angeboten aus Wissenschaft, Musik und Film, die es bei uns im Haus gibt, können die Künstler:innen in dieses Universum eintauchen und gleichzeitig den Campus der Cité internationale universitaire de Paris (CIUP), auf dem über 8000 Studierende leben, als Publikum für ihre Ausstellung erschließen.

Dr. Jenny Svensson: Bei der Fondation Fiminco sind die Aspekte Interdisziplinarität und Begegnung wichtig. Wie arbeitet ihr?

Katharina Scriba: Die Residenzen, die wir anbieten, sollen jungen Talenten die Möglichkeit geben, auf das nächste Level zu kommen. Wir stellen die Infrastruktur bereit, beispielsweise Arbeitsräume und Werkstätten, die hervorragend ausgestattet sind. Außerdem gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm, mit Open Studios und ganz persönlichen One-to-One-Meetings mit professionellen Akteur:innen aus der Kunstszene. Wir versuchen, möglichst maßgeschneidert vorzugehen, indem wir auf die Bedarfe schauen, überlegen, wen die Künstler:innen treffen sollten. Wir sorgen dafür, dass der Aufenthalt so erfolgreich wie möglich gestaltet ist. Es geht der Fondation Fiminco nicht darum, sich selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern es ist die Idee, eine Plattform zu sein und ein Ort, der Ressourcen bereitstellt, die wir mit anderen Institutionen, Künstler:innen und Akteur:innen teilen. Wir verstehen uns als Ermöglicher. Denn wir stehen vor Herausforderungen: Wie kann man einen Ort schaffen, an dem bislang unterrepräsentierte künstlerische Ausdrucksformen und Strömungen einen Raum erhalten? Wie können wir aus unseren eigenen Häusern herausgehen? Wie können wir eine Brücke schlagen vom ersten Pariser Arrondissement in die Banlieues? Und das machen wir immer in Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen in Paris, aber es können auch internationale Stiftungen, Museen oder selbst Regierungen und Städte sein.

Dr. Jenny Svensson: Die Frage nach dem Ort, an dem Kultur stattfinden kann, ist spannend. Nicht nur im Sinne, wo sie präsentiert wird, sondern wo die Künstler:innen arbeiten können. In Paris wie in Hamburg gibt es zu wenige Atelierräume, zu wenige günstige Räumlichkeiten für Proben von Musiker:innen, Performer:innen oder für Theaterstücke. Deswegen ist es besonders und wichtig, dass hier ein Ort geschaffen worden ist, an dem wirklich gearbeitet werden kann.

Katharina Scriba: Es war das Ziel unseres Stifters, Kultur dahin zu bringen, wo sie leider nicht stattfindet oder lange nicht stattgefunden hat. Dafür ist dieser Ort – ein riesiges Industrieareal aus den späten 1940er-Jahren, in das die Stiftung 2019 einzog – natürlich hervorragend geeignet. Mit großem Aufwand werden die Gebäude nach und nach renoviert und in ein „Quartier Culturel“ umgewandelt. Es fing damit an, dass hier Galerien einzogen, die zeitgenössische Kunstsammlung der Region, eine Kunsthochschule und natürlich wir mit dem Residenzprogramm und den entsprechenden Ausstellungsflächen und Werkstätten. So können wir quasi den „Lebenszyklus“ eines Künstlers nachzeichnen – von der Hochschule bis zur etablierten Künstler:in. Es gibt private Institutionen, die sich hier engagieren, aber auch öffentliche Akteure, was als Public Private Partnership in Frankreich noch nicht wirklich gelebte Praxis ist. Und dass das hier in Grand Paris in einer konzentrierten Form seinen Ort findet, in dieser Dynamik, in den Räumen eines ehemaligen Industrielabors, ist großartig. An diesen Ursprung möchten wir anknüpfen: Wir wollen ein Labor sein, wo geforscht, recherchiert, produziert wird und etwas Neues entstehen kann.

Wie kann personenbezogene Förderung auch einen gesellschaftlichen Impact haben?

Dr. Jenny Svensson: In unserem Stipendienprogramm stART.up fördern wir junge Hamburger Künstler:innen, die am Beginn ihrer freiberuflichen Karriere stehen. Dieses Programm der Claussen-Simon-Stiftung läuft mittlerweile seit zehn Jahren. Das haben wir als Anlass genommen, neue Förderformate für unsere Alumni:ae zu entwickeln. Es ist uns wichtig, dass unsere Unterstützung nachhaltig ist und nicht nur punktuell stattfindet. Deshalb halten wir den Kontakt nach dem Stipendienjahr, bleiben im Austausch und schauen gemeinsam mit den Ehemaligen, was sie brauchen, was wir bieten können und wie die einzelnen Kunstschaffenden, aber auch die Kunstszene in Hamburg, davon profitieren können. Denn es stellt sich natürlich auch immer die Frage, welchen gesellschaftlichen Impact personenbezogene Förderung haben kann. In welchem größeren Zusammenhang steht bei euch Einzelförderung mit, zum Beispiel, Kulturvermittlung oder gesellschaftlichem Engagement? 

Dr. Franziska Humphreys: Ich denke, dass personenbezogene Förderung immer eine Wette auf die Zukunft ist. Sie wird im Vertrauen darauf vergeben, dass die Person Dinge bewirken wird, die sich fortsetzen und weiterführende Effekte haben werden. Unser Haus, der gesamte Campus der Cité internationale universitaire, beruht auf dem Konzept, dass hier junge Menschen zusammenkommen. Die einhundert Studierenden, die bei uns wohnen, werden aufgrund ihrer Persönlichkeit ausgewählt, aber natürlich auch mit Blick auf die Zusammensetzung des Hauses und in Hinblick auf die Bildung einer Community, die in der Maison Heinrich Heine und auf dem Campus entstehen soll. Diese Vision steht auch hinter der Residenz in Kooperation mit der Claussen-Simon-Stiftung. Einerseits, weil der/die Künstler:in sich in diese bereits existierende Gemeinschaft einbringt und daraus Inspiration zieht. Gleichzeitig bereichert der/die Künstler:in die Gruppe und setzt Impulse, die aufgenommen und weitergetragen werden. Letztlich ist Gemeinschaft nicht nur die Summe von Begegnungen, sondern eröffnet viele weitere Dimensionen. Dafür braucht man starke, interessante, vielfältige, diverse Einzelpersonen.

Katharina Scriba: Der Gedanke der Begegnung ist auch bei uns Kern der Residenzprojekte. Das ist durchaus herausfordernd, denn wir müssen genau überlegen, wie wir aus den Künstler:innenpersönlichkeiten eine vielfältige, dynamische Community bilden, die ein Jahr lang zusammenlebt, arbeitet, sich austauscht und sich in einen kollaborativen Prozess begibt. Wie groß unsere Verantwortung gegenüber der einzelnen Person, aber auch der größeren Gemeinschaft ist, stellt sich uns jedes Mal im Auswahlprozess. Wir erhalten mittlerweile für unser eigenes Residenzprogramm „Fabrique“ tausendeinhundert Bewerbungen auf zwölf Plätze.

Dr. Jenny Svensson: Diese Zahlen macht deutlich, wie wertvoll das dépARTS-Stipendium der Claussen-Simon-Stiftung für unsere Alumni:ae ist und in welch großes Netzwerk sie dadurch eintreten!

Katharina Scriba: Ja, die Chance, Teil eines großen globalen Programms zu werden, ist leider sehr gering. Wir versuchen gegenzusteuern und sind in einem Umstrukturierungsprozess, möchten aber die breite Ansprache unseres Programms nicht aufgeben. Wir haben keine Altersbegrenzung und richten uns an Künstler:innen aus allen Ländern. Die Mischung aus französischen und internationalen Profilen halten wir für sehr sinnvoll, weil dadurch Vernetzungen entstehen, die über den Rahmen und die Angebote, die wir bieten, hinausgehen und nochmal andere Dynamiken in die Community bringen. Solche informellen Netzwerke und die Freundschaften, die sich entwickeln, sind besonders wertvoll. Das ist das, was bleibt.

Dr. Jenny Svensson: Bei euch kommen Menschen mit verschiedenen Hintergründen, Herkünften und Meinungen zusammen. In den letzten Jahren haben sich politische Gegensätze verschärft, es standen sich  immer wieder kontroverse Meinungen gegenüber, es kam zu Konfrontationen. Auch in Kulturinstitutionen ist das spürbar, wenn Kulturschaffende unterschiedliche Meinungen vertreten. Wie beeinflussen die Vielfalt der Stipendiat:innen und das gesellschaftliche Klima eure Arbeit und die Residenzen?

Katharina Scriba: In unserer Arbeit geht es darum, sich in andere hineinversetzen zu können – man muss sich selbst immer wieder fragen: Wie erlebt die andere Person diese Situation? Es kann immer zu Übersetzungsschwierigkeiten kommen, wenn so viele Künstler:innen mit unterschiedlichen Backgrounds zusammentreffen. Das ist aber nicht immer konfrontativ. Beispielsweise wird ein indischer Künstler, der bisher aus seinem kleinen Dorf nie rausgekommen ist und jetzt plötzlich in der Großstadt Paris landet, manchmal mit Fragen und Herausforderungen ganz praktischer Natur konfrontiert. Das erfordert eine komplett andere Begleitung als bei anderen internationalen Künstler:innen, die an der Académie des Beaux-Arts de Paris waren und in diesem ganzen Kulturbetrieb schon drin sind, die dessen Codes in- und auswendig beherrschen. Das sind Herausforderungen, die ich auch bei der Auswahl in den diversen Jurys berücksichtige. Wie schaut man auf Dossiers? Wie kann man über das hinausgehen, was man kennt und den eigenen Blick weiten? Deswegen versuche ich, die Jurys immer international zu besetzen und Stimmen aus anderen geographischen Gegenden einzubeziehen. In der Fondation Fiminco bin ich die Vermittlerin zwischen den Künstler:innen und zwischen Team und Künstler:innen. Dabei sind die Mediation und das Gespräch vor Ort extrem wichtig, das kann durch nichts ersetzt werden. Ich versuche immer so früh wie möglich, den Dialog zu suchen, denn wenn man über die Dinge redet, erledigt sich die Hälfte des Problems meist schon.

Dr. Franziska Humphreys: Ich kann das nur unterstreichen. Immer wieder werde ich gefragt, ob auch der Campus der CIUP und unser Haus von Protestbewegungen betroffen ist und ob sich die Studierenden angesichts der vielen verschiedenen geopolitischen Konfliktherde im Moment radikalisieren oder Gebäude besetzen. Tatsächlich ist es sehr friedlich bei uns – was mich zum Nachdenken bringt. Ich denke, bei uns gibt es bisweilen Tendenzen, sich in abgeschlossenen Gruppen oder sozialen Blasen zu bewegen, die sich auch räumlich abgrenzen möchten. Das spiegelt sich in Anfragen nach speziellen Safe Spaces für bestimmte Gruppen oder Identitäten bei uns im Haus. Diese Tendenz zur Abgrenzung, wo man sich nicht mehr in erster Linie dafür einsetzt, zusammen eine Gemeinschaft zu bilden, die allen Raum und Sicherheit gibt, sondern den sozialen Raum kompartimentiert, führt aber dazu, dass es in einer bestimmen Weise zu ruhig ist. Denn dadurch wird bei uns auf dem Campus weniger diskutiert, Konflikte werden seltener ausgetragen. Es muss aber grundsätzlich in einer Gesellschaft möglich sein, dass Personen sich darauf einlassen, auch über ihre Differenzen hinweg zusammenzuleben und darüber ins Gespräch zu kommen. Und dafür sind Residenzprogramme wichtige Symbole.

Residenzprogramme als gemeinsames Ausloten von Möglichkeiten

Dr. Jenny Svensson: Nachhaltigkeit in der Förderung schließt ein, dass die Künstler:innen die Chance erhalten, ihre Arbeiten mehrmals zu präsentieren. So war es beispielsweise bei Andrés Muñoz Claros, der im März 2025 die Claussen-Simon-Residenz in der Maison Heinrich Heine angetreten hat: Seine Werke, die nach einer Reise ins Amazonasgebiet entstanden sind, wurden zunächst bei einer Ausstellung zum Jubiläum unseres Stipendienprogramms stART.up gezeigt und dann auch in der Giraffentoast Gallery in Hamburg, bevor sie nach Paris kamen. Das war für ihn ein sehr großer Mehrwert. Welche Verantwortung trägt der Kulturbetrieb in Hinblick auf diesen Aspekt der Nachhaltigkeit?

Dr. Franziska Humphreys: Die Einzelpersonen-Förderung funktioniert nur, wenn sie in irgendeiner Form auf Dauer gestellt ist– wie bei Andrés, dessen Ausstellung mehrmals gezeigt wird. Ich finde es extrem wichtig, aus dem fast unentrinnbaren Trend der Kurzfristigkeit auszubrechen und Momente des Innehaltens zu stiften. Wir versuchen, Wege zu finden, das umzusetzen und dieser Zeit der massiven Digitalisierung etwas entgegenzusetzen. Mit unserem Kunstprogramm möchten wir aus der digitalen Welt zurückkommen und eine präsentische, vor Ort stattfindende Gemeinschaft ermöglichen, die tagtäglich zusammenlebt. Wir setzen der Beschleunigung und Entfremdung der Welt etwas entgegen. In der Kulturarbeit geht es um Begegnung, und die funktioniert nur mit einzelnen Menschen. Es muss eine Bereitschaft geben, sich auf Begegnungen und Präsenz mit anderen einzulassen. Man muss sich Zeit nehmen für die anderen, für das Ausgestalten dieser Begegnung in allen Facetten.

Katharina Scriba: Wir sind überzeugt, dass neben den künstlerischen Aspekten die Gemeinschaft und die interkulturellen Begegnungen eine wichtige Säule der nachhaltigen Förderung sind. Die Resident:innen tragen dies in sich, wenn sie in ihre Länder zurückgehen, und geben ihre Erfahrungen weiter. Die Netzwerke, die entstanden sind, werden mitgenommen und dadurch erweitert. Es ist also nicht nur einseitig, sondern es entsteht wechselseitiger Mehrwert. Deswegen ist uns die Kooperation mit der Claussen-Simon-Stiftung wichtig, weil dadurch unsere Sichtbarkeit in Hamburg steigt. So können Projekte stattfinden und gefördert werden, die über die Residenzen hinausgehen. Außerdem entsteht Nachhaltigkeit durch Vermittlung. Unsere Vermittlungsarbeit hat das Ziel, künstlerische Inhalte an unterschiedliche Altersgruppen vor Ort und in Schulen zu bringen. Dafür haben wir ein eigenes Team, aber wir versuchen zusätzlich, interessierte Künstler:innen in unsere Vermittlungsprogramme einzubinden. Sie denken sich ein Projekt aus, das dann gemeinsam mit Schüler:innen aus der Gegend gestaltet wird. Das sind interessante Prozesse, in denen neue Rollenvorbilder entstehen und die Kinder ein Bewusstsein dafür entwickeln, was man in seinem Leben machen kann.

Dr. Jenny Svensson: Die Residenz in Kooperation mit der Maison Heinrich Heine hat bereits zwei Mal stattgefunden. Bei der Fondation Fiminco steht diesen Herbst der zweite Jahrgang an. Xiyu Tomorrow, die 2024 in der Maison Heinrich Heine war, sagte, dass die Residenz dank der Auseinandersetzung mit der Pariser Kunstszene langfristig Impulse in ihrer künstlerischen Arbeit gesetzt habe. Wie erlebst Du die Zusammenarbeit mit den Resident:innen, Franziska?

Dr. Franziska Humphreys: Ich kann grundsätzlich sagen, dass wir den Resident:innen unglaublich dankbar sind und es toll ist, diese Menschen bei uns im Haus zu haben. Als Institution haben wir sehr viel von ihnen gelernt und sind mit ihnen gewachsen. Dadurch, dass Xiyu die erste Residentin war, hat sie viel zur Gestaltung der Residenz beigetragen. So gut man ein neues Projekt wie eine Residenz auch planen kann – in der Zusammenarbeit mit den Resident:innen passiert noch ganz viel. Die Künstler:innen, die Arbeiten und Erfahrungen, die sie mitbringen, regen uns zum Nachdenken an und bieten uns die Möglichkeit zu wachsen. Das ist der Vorteil unserer eher kleinen Institution: Wir können sehr schnell lernen und Dinge umsetzen. Ich glaube, die Begegnung, die Auseinandersetzung und der Alltag mit diesen Künstler:inpersönlichkeiten ermutigen uns tatsächlich zu mehr Freiheit. Das erlaubt uns, neue Räume und neue Formen der Begegnung zu denken. Für uns sind die Residenzen eine rundum positive und glückstiftende Erfahrung.

Dr. Jenny Svensson: Letztes Jahr habt ihr Xiyu die Kunsthistorikerin Elora Weill-Engerer an die Seite gestellt. Aus dieser Begegnung ist ein Interview entstanden, und sie hat außerdem einen Beitrag für die Publikation, die im Nachgang der Residenz veröffentlicht wurde, verfasst. Kontakte wie dieser sind auch ein großer Mehrwert solcher Kooperation.

Dr. Franziska Humphreys: In unserer Residenz können die Künstler:innen zwar nicht so arbeiten wie etwa in der Fondation Fiminco, aber sie kommen in eine Reflexion über ihre eigene Arbeit. Bei Xiyu hat sich tatsächlich etwas verändert, und es war zutiefst bewegend zu sehen, wie die Farbe in ihr Werk gekommen ist. Für mich war es ein wunderbarer Moment, einige Monate später Xiyus Buch „La Passante“ in der Hand zu halten, das aus der Residenz entstanden ist. Denn dadurch bleibt nicht nur etwas von der Ausstellung, sondern man kann auch nachvollziehen, was dieser Monat für die Künstlerin bedeutet hat. Auch das ist ein Beitrag zur nachhaltigen Förderung, eine bleibende Spur der Residenz.

Dr. Jenny Svensson: Im Herbst 2024 war ich zum Ende der dépARTS-Residenz in der Fondation Fiminco, wo unter dem Titel „Farewell! This is not an exhibition“ die Abschlussveranstaltung eures Programms Talents! stattfand. Unsere Stipendiat:innen Katja Pilipenko und Maik Gräf hatten sehr prominente Plätze in der Ausstellung und auch die tolle Gelegenheit, ein Künstler:innengespräch vor Publikum zu führen. Aus diesem Abend hat sich eine fortdauernde Zusammenarbeit von Maik mit dem Performancekünstler Théo Pézeril ergeben, der nun auch nach Hamburg kommen wird.

Katharina Scriba: Ja, es haben sich ganz tolle Dynamiken ergeben. Es war für uns das erste Mal, dass wir dieses Residenzprogramm durchgeführt haben, und es war ein gegenseitiges Austarieren und Ausloten. Der Lerneffekt war sehr groß. Zu den beiden Künstler:innen, Maik und Katja, hatte ich eine sehr persönliche Verbindung, weil ich gemerkt habe, wie sie sich auf die Residenz einließen, aufblühten und neue Dinge ausprobierten. Sie sind wirklich ins Arbeiten gekommen und haben auch das Gespräch mit den Werkstattleitenden und mit den anderen Resident:innen gesucht. Die beiden haben in den drei Monaten mit der Kuratorin und Kunstkritikerin Anaїd Demir zusammengearbeitet. Ihr Blick von außen und die Begleitung im Prozess der Residenz waren sehr wertvoll. Dass so ein Austausch wichtig ist und dafür Raum und Ressourcen bereitgestellt werden müssen, ist ein Learning, das wir aus dem ersten Durchgang der dépARTS-Residenz mitgenommen haben. Ich bin auch mit beiden weiterhin in Kontakt, und Katja zum Beispiel wird sich in Paris auf weitere Residenzen bewerben. Der Mehrwert von einem Programm wie dépARTS wird so direkt deutlich.

Dr. Jenny Svensson: Die Besonderheit an unseren Kooperationen ist, dass sich vor Ort Möglichkeiten ergeben, aus denen heraus die Residenzen weiterentwickelt werden. Die jeweiligen Residenzprogramme sind nicht fest zementiert, sondern bieten immer wieder neue Ansatzpunkte. Wie etwa, dass wir dépARTS zunächst nur für Bildende Künstler:innen ausgeschrieben hatten. Durch Impulse vor Ort und im Gespräch entstand dann aber die Idee, auch andere Kunstformen einzubinden. Das beständige Gespräch, das ja auch für die Resident:innen wichtig ist, bildet auch für uns als Partnerorganisationen die Arbeitsgrundlage. Deswegen können wir im Herbst 2025 zwei performative Künstler:innen nach Paris schicken, und wir überlegen auch, wie wir die beiden Residenzen noch enger miteinander verknüpfen können. So ist jetzt angedacht, dass Simon Kluth, der im Herbst bei dépARTS dabei ist, auch eine Performance in der Maison Heinrich Heine zeigen wird. Wir sind bereits sehr gespannt, wie sich die Residenz-Programme mit diesen neuen Impulsen weiterentwickeln werden!

 


 

Dr. Franziska Humphreys studierte Allgemeine Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und französische Philologie. Nach Stationen in der Verlagswelt, der Wissenschaft und der Kulturvermittlung in München, Paris und Brüssel leitet sie heute die Maison Heinrich Heine, ein renommiertes Kulturzentrum und Studierendenwohnheim in der Trägerschaft des DAAD, in Paris. Franziska Humphreys ist ebenfalls als Übersetzerin aus dem Französischen und publizistisch tätig.

Katharina Scriba leitet seit 2022 die Fondation Fiminco. Zuvor war sie über zehn Jahre für die kulturelle Programmarbeit am Goethe-Institut in Paris verantwortlich und initiierte zahlreiche künstlerische Projekte in Zusammenarbeit mit renommierten Institutionen in Paris und ganz Europa. Für ihr Engagement im Bereich des kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich wurde sie 2015 mit dem Preis der deutsch-französischen Freundschaft ausgezeichnet, den ihr der deutsche Botschafter in Frankreich verlieh. Seit 2018 vertritt Katharina Scriba die Stadt Hamburg ehrenamtlich als HamburgAmbassadorin. Zudem ist sie Mitglied in verschiedenen Beiräten und Auswahlkomitees und nimmt regelmäßig an internationalen Podiumsdiskussionen teil.

Mit dem Residenzprogramm dépARTS und der Claussen-Simon-Residenz in der Maison Heinrich Heine bietet die Claussen-Simon-Stiftung ihren ehemaligen stART.up-Stipendiat:innen die Chance, ihre Kunst in der französischen Hauptstadt zu präsentieren und weiterzuentwickeln.

Mit dépARTS fördern wir in Kooperation mit der Fondation Fiminco in Paris herausragende stART.up-Alumni:ae, die eine dreimonatige Residenz in Paris, verbunden mit einem künstlerischen Projekt, absolvieren. Sie präsentieren sich in Paris und vernetzen sich mit der dortigen Kunst- und Kulturszene sowie mit den Künstler:innen des ebenfalls von der Fondation Fiminco ermöglichten internationalen Residenzprogramms Talents!.

In einer Kooperation mit der Maison Heinrich Heine erhalten stART.up-Alumni:ae die Möglichkeit, in den Räumlichkeiten der Maison Heinrich Heine in Paris eine Solo-Ausstellung zu realisieren. Während der Laufzeit der einmonatigen Ausstellung residiert der/die Künstler:in vor Ort, um Kontakte in die Pariser Kunstszene zu knüpfen, Workshops und Artist Talks zu geben und das eigene berufliche Netzwerk zu stärken. 

Veranstaltungstipp! Am 6. Juni 2025, 19 Uhr, findet im Kunsthaus Hamburg ein Artist Talk mit Katja Pilipenko und Maik Gräf statt, in dem sie von ihrem Aufenthalt an der Fondation Fiminco im Rahmen des Residenzstipendiums dépARTS berichten werden. Neben dem Gespräch wird es eine kulinarische Intervention von Katja Pilipenko und eine Performance von Théo Pézeril geben. Moderiert von Anna Nowak, Direktorin des Kunsthaus Hamburg und Mitglied in der Auswahljury von dépARTS. Eintritt frei.

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