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#Bildung

Unterricht im Zeitalter des Spin(nens)

Elvin Demirci, Stadtteilschule Mümmelmannsberg

„Wir leben im Zeitalter des Spin“, sagte der Comedian Dave Chappelle – und bringt damit auf den Punkt, wie schwer es heute geworden ist, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten. Besonders für junge Menschen verschwimmen die Grenzen: In den sozialen Medien wechseln sich Schmink-Tutorials und harmlose Tanzvideos im Sekundentakt mit Kriegsbildern oder Verschwörungstheorien ab. Dieses permanente Informationskarussell dreht sich so schnell, dass sich nicht nur der Kopf, sondern auch die Wahrheit verdreht. Unterrichten im Zeitalter des Spin(nens) ist eine echte Herausforderung.
So auch für mich als Geschichtslehrerin. Wie vielen Kolleg:innen liegt mir daran, dass die Schüler:innen sich für die Lerninhalte begeistern und wirklich verstehen, was der Unterrichtsstoff mit ihnen zu tun hat. Dass sie über den Unterricht hinaus die Lerninhalte diskutieren, ist eine Idealvorstellung, die manchmal sogar Realität wird – so wie bei unserem Projekt „Mümmel Goes Den Haag“, das auf Initiative von meinen Schüler:innen im Oktober 2024 entstand und so erfolgreich war, dass wir mit dem neuen Geschichtsprofil weitermachen.

Vom Spinnen zur Idee

Auf einer Klassenfahrt im September 2024 besuchten wir für einen Tag den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) und durften sogar einer öffentlichen Verhandlung von der Besuchertribüne aus beiwohnen. Der Angeklagte war der ehemalige malische Polizeichef der islamistischen Terrorgruppe Ansar Dine in Timbuktu, der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat; inzwischen ist er zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. Die Schüler:innen waren nachhaltig beeindruckt und diskutierten noch spät am Abend untereinander den Fall. Darunter war auch zwei Schülerinnen aus meinem Geschichtskurs. Sie waren überzeugt, dass der gesamte Geschichtskurs die Unterrichtsthemen an diesem besonderen Lernort erleben sollte.

Der Geschichtskurs war sofort an der Idee interessiert. Schnell hatten die Schüler:innen tolle Ideen und begaben sich gemeinsam mit mir auf die Suche nach Förderern, um diese umsetzen zu können. Um für ihr Projekt zu werben, trafen sie Politiker:innen, nahmen an Abendveranstaltungen teil, schrieben emsig E-Mails und sprachen lokale Geschäfte und Banken an. So viel Engagement war wahrlich traumhaft! In einem Brief wandten wir uns auch an die Claussen-Simon-Stiftung, die an uns geglaubt und finanziert hat. So konnten wir mit unserem Projekt anfangen zu wachsen.

Erinnerungswürdige Begegnungen 

Die Schüler:innen setzen die Themen selbst und tauschten sich intensiv über diese aus. Das Engagement ging so weit, dass sie sich sowohl im Unterricht als auch außerhalb der Schule auf unterschiedlichen Veranstaltungen mit lokal- und geopolitisch relevanten Ereignissen beschäftigten. Eine der drängendsten Fragen der Schüler:innen, die sich mit Blick auf den Besuch in Den Haag besonders anbot: Begeht die israelische Regierung einen Genozid gegen die palästinensische Zivilbevölkerung? 

Im Unterricht bearbeiteten wir diese Frage unter anderem anhand eines Schulbuchvergleichs, in der wir die jeweiligen historischen Narrative zur Entstehung Israels analysiert haben.  Wir luden auch Expert:innen ein und so kam es zu einem unvergesslichen Treffen: Das mit dem Menschenrechtspreis der Tonhalle Düsseldorf zu verdienter Ehre gekommene Projekt „Trialog“ von Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann war zu Gast in unserer Schule. In dieser Gesprächsveranstaltung zum Nahostkonflikt wurde den Schüler:innen Raum gegeben für den Umgang mit starken Emotionen, die unweigerlich mit der Thematik einhergehen. Die Schüler:innen erlebten am Vorbild der Workshopsgebenden, dass man Vorurteile abbauen kann und ein respektvoller Austausch möglich ist. So lebten sie Demokratie, indem sie Multiperspektivität aushielten und aufrichtigen Respekt als Grundlage für einen friedlichen Umgang erkannten.

Um unseren Besuch am IStGH bestmöglich vorzubereiten, bekam unser Geschichtskurs Besuch von Herrn Dr. Mayeul Hiéramente. Er ist Anwalt und im internationalen Strafrecht in höchstem Maße versiert. Dr. Hiéramente nahm sich einen ganzen Tag Zeit, um uns zu erklären, wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag entstanden ist, wie er funktioniert und welche Handlungen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert sind. Die Schüler:innen erhielten dank seiner zugänglichen juristischen Perspektive ein tieferes Verständnis für die Arbeit Internationaler Gerichte, was ihnen später bei der Entwicklung von Fragen für die Interviews mit Experten am IStGH und den Kosovo Specialist Chambers sehr half. 

„Mümmel Goes Den Haag“ im Februar 2025

Im Februar 2025 wurde Theorie in Praxis umgesetzt und der ganze Kurs fuhr nach Den Haag. Leider waren in dieser Woche keine Verhandlungen angesetzt, aber dank Herrn Dr. Hiéramente, der zeitweise am IStGH gearbeitet hatte, kam der Kontakt zur Juristin Marie O’Leary zustande, die unseren Schüler:innen alles genau erklärt und Fragen beantwortet hat. Aus Sicherheitsgründen war es nicht möglich, sich im Gebäude anderweitig umzuschauen, auch galt ein striktes Fotografierverbot. Dennoch gab es bereits im Foyer einiges zu bestaunen: die Architektur ist einladend offen und die zahlreichen Ausstellungsstücke zeugen von der Bedeutung des Gerichts. 

Spannend war auch der Besuch der Kosovo Specialist Chambers (KSC). Die Sicherheitskontrolle dort war einschüchternd, doch danach konnten sich die Schüler:innen entspannen und Michael Doyle, den Sprecher des KSC, nach einer ausführlichen Informationsveranstaltung interviewen. Aufgrund ihres authentischen Interesses an der Expertise von Michael Doyle – einige Schüler:innen haben aufgrund ihrer Familienbiografie einen persönlichen Bezug zu den Ereignissen des Kosovokriegs –und an der Rolle von Internationalen Gerichten bei der Ahndung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, war es kein Hindernis, dass das Gespräch auf Englisch geführt wurde. Unsere Schüler:innen ermöglichten durch ihre jeweils ganz eigenen Perspektiven unschätzbar wertvolle Beiträge und einen angeregten Austausch.

Die anschließende Reflexion meiner Schüler:innen zeigten mir, wie sehr sie von diesen Expert:innenbegegnungen profitieren. So können sie komplexe Inhalte kontextualisieren und die Themen anhand von authentischen Gesprächsanlässen vertieft. Kein noch so gutes Schulbuch kann die Authentizität solcher unmittelbaren Begegnung ersetzen und auch in der Schule wird Theorie erst durch Praxis interessant. 
Diese Erfahrung bestätigte sich auch im „Oranjehotel“ in Den Haag. Diesen zynischen Spitznamen erhielt das ehemalige NS-Gefängnis von inhaftierten Niederländern, die Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet haben. Heute ist es eine Gedenkstätte und durchdacht gestaltetes Museum, das durch fesselnde Animationen, hochinteressante Ausstellungsstücke sowie weitestgehend erhaltene Zellen tiefe Einblicke in den Alltag der Gefangenen gewährt. Meine Schüler:innen überrasche es, dass sich das Haftzentrum des IStGH in unmittelbarer Nähe auf dem Gefängniskomplex von Scheveningen befindet. Durch eine Glasfassade konnte man zu dem Gefängnis hinüberschauen –  Recht und Unrecht nebeneinander und hautnah. 

Die Erfahrungen im „Oranjehotel“ haben meine Schüler:innen nachhaltig beeindruckt und darin bestärkt, sich weiterhin intensiv mit Fragen rund um demokratische Grundsätze wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu befassen. Als Lehrerin hat es mich tief berührt, dass sie nicht gehen wollten. Sie baten mich, den Busfahrer auf einen späteren Abholzeitpunkt zu vertrösten. 
 

„Wir haben einen sozialen Aufstieg gemacht“

Wie sehr aktives Gestalten, persönliches Engagement und positive Rückmeldungen die Schüler:innen bestärken, zeigt sich auch am Beispiel des Tags der offenen Tür unserer Schule, der bereits vor der Reise nach Den Haag stattgefunden hatte. An dem Tag im Dezember 2024 präsentierten meine Schüler:innen stolz ihr Projekt, gekleidet in Roben wie die Richter:innen am IStGH. Sie gestalteten einen Infostand und zwei eloquente Freiwillige hielten Reden im Hörsaal, die sie in Gruppen zuvor gemeinsam erarbeitet hatten. Unter unseren zahlreichen Zuhörer:innen waren Schüler:innen, Eltern, das Kollegium und auch Gäste von Extern. Unsere Ehrengäste waren das Anwaltspaar Claudia und Steffen Leicht, die unser Projekt von Beginn an unterstützt haben und noch unterstützen. Menschen wie sie sind es, die uns zeigen, dass das Engagement von Schüler:innen gesehen und aktiv unterstützt wird. In diesem Zusammenhang ist es auch als Erfolg des Projekts zu betrachten, dass eine der Teilnehmerinnen sagte: „Wir haben einen sozialen Aufstieg gemacht.“ Dieser Satz zeigt mir, dass wir mit dem Projekt vielleicht noch mehr erreicht haben, als wir uns erhofft hatten: Die Jugendlichen erleben sich als ernstgenommener Teil der Gesellschaft. Sie spüren, dass ihre Stimmen Gewicht haben, und erfahren, dass sie etwas bewirken können – und genau das ist es, worum es in einer Demokratie schließlich geht. 
Diese Wahrnehmung wurde noch verstärkt, als unsere Schulsenatorin Frau Ksenija Bekeris die Einladung angenommen und unsere Schüler:innen persönlich besucht hat, um sich ein Bild von dem Projekt zu machen. Für sie war das ein starkes Zeichen, denn ihre Arbeit findet Beachtung, nicht nur in der Schule, sondern auch in der Politik. 

Lernen ist Spinnen und Weben – Projektarbeit im Curriculum verankern

Mit dem Beginn der Abiturvorbereitung verschob sich die Aufmerksamkeit wieder auf die Prüfungen. Ich fragte mich, ob ich zu weit vom Lehrplan abgewichen war. Doch die Abiturthemen – Französische Revolution, Weimarer Republik – sind letztlich Fundamente von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Die gemeinsame Arbeit mit meinen Schüler:innen im Projekt „Mümmel Goes Den Haag“ hat mir allen Zweifeln zum Trotz gezeigt, dass Unterrichten im Zeitalter des Spin(nens) für mich heißt, den Mut zu haben, mit ihnen hinauszugehen, Fragen zuzulassen und Unsicherheiten auszuhalten. Nicht alles lässt sich in einem Arbeitsblatt abbilden. Gerade in den Begegnungen und Erlebnissen wächst das, was Geschichtsunterricht im Kern leisten soll: Junge Menschen stark machen für ein demokratisches Bewusstsein und die Fähigkeit empathisch und reflektiert mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umzugehen. 

Ich bin dankbar, an einer Schule zu arbeiten, die solche mutigen Schritte nicht nur erlaubt, sondern aktiv unterstützt, dankbar für ein fantastisches Kollegium und offene Schüler:innen. Das Projekt wird nicht zuletzt dank ihnen weitergehen und den Weg ins schulinterne Curriculum machen, damit möglichst viele Schüler:innen davon profitieren.
 

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Toller Beitrag! Ich bin eine den Schüler:innen von Frau Demircis Geschichtskurs und bin sehr dankbar, sie als unsere Lehrerin gehabt zu haben. Ihr generelles Engagement, aber vor allem in diesem Projekt, war unglaublich, und für diese Chance sind wir ihr, der Claussen-Simon-Stiftung und allen weiteren Unterstützenden sehr dankbar! <3

Aleyna
11. November 2025