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Der Umgang deutscher Hochschulen mit Flucht*Migration. Teilhabehürden und Veränderungsansätze
Awista Gardi, Stipendiatin bei Dissertation Plus
Seit 2015 ist die Bildungsteilhabe von Studierenden und Studieninteressierten mit Flucht*Migrationserfahrungen ein erkennbarer Bestandteil von Diskursen und Praktiken in und um Hochschulen. Dennoch verweisen diverse Studien auf eine Vielzahl an Teilhabehürden, die auch zehn Jahre nach der Umsetzung breiterer bildungspolitischer und institutioneller Maßnahmen ungebrochen fortwirken. Diese Hürden scheinen mit den Funktionsweisen hochschulischer Regelsysteme verwoben zu sein. Migrationsbedingte Hochschulentwicklung ist ein Ansatz, mit dem ebenjene Regelsysteme nachhaltige Veränderungsprozesse in Richtung von chancengerechterer Bildungsteilhabe durchlaufen können.
Hochschulische Aufmerksamkeitsverschiebungen
Flucht*Migration prägt deutsche Bildungsinstitutionen seit Jahrzehnten (vgl. Schroeder 2022). Dennoch wurden die Möglichkeiten hochschulischer Bildungsteilhabe von Studieninteressierten und Studierenden mit Flucht*Migrationserfahrungen lange Zeit kaum beachtet (vgl. ebd., 30). Ihre Studienanfragen wurden zumeist als Sonderfälle gehandhabt und somit nicht mit umfassenderen institutionellen Veränderungsprozessen verknüpft (vgl. ebd., 63). Einen Einschnitt in dieses Vorgehen stellt die hochschulische Reaktion auf die Flucht*Migrationsbewegungen im Jahr 2015 dar. In diesem Jahr erreichten viele (angehende) Akademiker:innen, die ihre Bildungslaufbahn in Deutschland fortsetzen wollten, die Bundesrepublik (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 180).
Das Themenfeld der Bildungsteilhabe von Studierenden und Studieninteressierten mit Flucht*Migrationserfahrungen erhielt daraufhin einen verstärkten Einzug in Diskurse an und um Hochschulen. Breitere wissenschaftspolitische Neuerungen wurden umgesetzt, um Zugangshürden zur Hochschulbildung abzubauen, wie beispielsweise themenspezifische Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (vgl. Kultusministerkonferenz 2015) und die Zunahme flucht*migrationsbezogener Maßnahmen an Hochschulen – wie vom Deutschen Akademischen Austauschdienst finanziert (vgl. Fourier et al. 2021, 9ff.) – verdeutlichen.
Ein Konglomerat an Teilhabehürden
Trotz dieser Neuerungen dokumentieren zahlreiche Studien eine Vielzahl an Teilhabehürden, auf die Studierende und Studieninteressierte mit Flucht*Migrationserfahrungen in den Phasen des Hochschulzugangs und Studieneinstiegs, des Studienverbleibs und des Übergangs in den Beruf treffen:
- Sprachliche Barrieren erschweren den Zugang und das Einleben in Hochschulen maßgeblich (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 180). So müssen Studieninteressierte mit einer im Ausland erworbenen Hochschulzugangsberechtigung vor Studienbeginn das Sprachniveau B2 oder C1 entsprechend des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens nachweisen. Damit zusammenhängende Sprachkurse und -tests führen zu hohen kumulierten Zeitverlusten durch Warte- und Vorbereitungszeiten (vgl. ebd., 206f.) und gehen mit finanziellen Hürden einher, die zumeist von den Studieninteressierten selbst getragen werden (vgl. ebd., 180).
- Das Ausfüllen des Elternfragebogens kann bei der Beantragung und Verlängerung von BAföG eine Hürde darstellen, wenn es flucht*migrationsbedingte Schwierigkeiten im Kontakt mit den Eltern der Studierenden gibt. Barrieren der Studienfinanzierung können ihre Effekte so in das gesamte Studium hinein entfalten (vgl. Fourier et al. 2020, 52).
- Die Überprüfung der fachlichen Eignung ausländischer Schulabschlüsse wird primär durch die Servicestelle UniAssist durchgeführt (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 198). Das kostenpflichtige Prüfverfahren wird als hochschwellig, langwierig und von technischen sowie Übersetzungsfehlern geprägt beschrieben (vgl. ebd., 180). Nicht alle im Ausland studienbefähigenden Schulabschlüsse werden dabei in Deutschland anerkannt. Je nach Herkunftsland kann es vorkommen, dass Hochschulzugangsberechtigungen nachgeholt werden müssen, selbst wenn in einigen Fällen schon ein Studium im Ausland begonnen oder gar abgeschlossen wurde (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 180ff.; Berg et al. 2018, 58).
- Studierende, die ihr Studium im Ausland flucht*migrationsbedingt unterbrachen, können bereits absolvierte Module an ihren Hochschulen in Deutschland anerkennen lassen. Die Anerkennung von Modulen obliegt den Hochschulen selbst und hängt somit davon ab, welches Verfahren die Hochschulmitarbeitenden für die Gleichwertigkeitsfeststellung nutzen, welche Nachweise hierfür als notwendig festgelegt werden und wie die Bewertung der vorgelegten Nachweise ausfällt. Die dadurch getroffenen Entscheidungen sind also maßgeblich an Ermessensspielräume individueller Hochschulakteur:innen gebunden – mit in der Praxis oft negativen Folgen für die Studierenden (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 180).
- Aufenthaltsrechtliche Hürden können den gesamten Studienverlauf über negative Effekte entfalten, da ein Studium nicht als Grund für die Erteilung eines langfristigeren Aufenthalts gilt (vgl. Berg et al. 2018, 59).
- An deutschen Hochschulen dominieren Normvorstellungen über Studierende, die sich maßgeblich von den Eigenschaften und Lebenslagen vieler Studierender mit Flucht*Migrationserfahrungen unterscheiden (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 188). Infolgedessen werden diese in vielen wissenschaftlichen Disziplinen nicht automatisch als Mitglieder der scientific communities mitgedacht und nicht als förderungsfähiger wissenschaftlicher Nachwuchs fokussiert (vgl. ebd., 179ff.).
- Studierende mit Flucht*Migrationserfahrungen berichten in mehreren Studien von Rassismuserfahrungen im Studienalltag (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 217; Bouchara 2019, 55ff.; Fourier et al. 2020, 40). Dies erscheint besonders in Anbetracht von Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen im Studienalltag und einer erhöhten Studienabbruchquote als besorgniserregend (vgl. Ebert/Heublein 2017; Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2017; Stern et al. 2018).
- Auch außeruniversitäre Rassismuserfahrungen wirken sich negativ auf die Studierfähigkeit sowie den Berufseinstieg aus (vgl. Hertlein/Leiprecht 2019, 215f.). Studierende, die einen größeren Teil ihres Studiums im Ausland absolvierten, müssen mehr Bewerbungen schreiben als Studierende, deren formelle Bildungslaufbahn primär in Deutschland verlief, um zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden (vgl. Morris-Lange et al. 2021, 22f.).
Studierende mit Flucht*Migrationserfahrungen treffen im gesamten deutschen Bundesgebiet auf Barrieren hochschulischer Bildungsteilhabe, die sich potenziell durch den gesamten Studienverlauf ziehen. Nicht verwunderlich erscheinen in Anbetracht dessen die überdurchschnittlich hohen Abbruchquoten dieser Studierendengruppe (vgl. Heublein et al. 2020; Pineda et al. 2022). Auch zehn Jahre nach Inkrafttreten breiter bildungspolitischer und hochschulischer Maßnahmen spiegeln Daten, die ich aktuell im Zuge meiner Forschung zur Handlungsmacht Studierender mit Flucht*Migrationserfahrungen an deutschen Hochschulen erhebe, den bisherigen Forschungsstand zu Teilhabehürden wider. Der Versuch, chancengerechte Bildungsteilhabe in Anbetracht flucht*migrationsbedingter Diversität nachhaltig und umfassend zu ermöglichen, ist bisher also nicht gelungen.
Institutionelle Regelsysteme im Fokus migrationsbedingter Hochschulentwicklung
Der Forschungsstand legt nahe, dass die beschriebenen Teilhabebarrieren in den Rahmenbedingungen um und an deutschen Hochschulen verwurzelt sind. Die Funktionsweise hochschulischer Regelsysteme und deren Umgang mit flucht*migrationsbedingter Diversität rückt so in den Fokus möglicher Veränderungsprozesse. Ein Ansatz, der die Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen zur Gestaltung chancengerechterer Bildungsteilhabe einbezieht, ist die migrationsbedingte Hochschulentwicklung nach Louis Henri Seukwa (vgl. Seukwa 2021).
Migrationsbedingte Hochschulentwicklung grenzt sich vom Vorhaben ab, Menschen mit Flucht*Migrationserfahrungen schlicht in hochschulische Regelsysteme zu assimilieren (vgl. Seukwa 2021, 165). Im Zuge einer relationalen Perspektive, die sowohl Strukturen als auch Individuen betrachtet, werden zielgruppenspezifische Fördermaßnahmen mit nachhaltigen institutionellen Veränderungsprozessen in allen Handlungs- und Ausbildungsbereichen kombiniert, die Flucht*Migration als permanente, institutionelle Normalität in ihr Regelsystem einbeziehen (vgl. Seukwa 2021, 178; Schroeder 2022, 46f.; von Blumenthal 2018, 26). Die Identifikation von Teilhabebarrieren und Irritationen in institutionellen Regelabläufen bildet dabei den Ausgangspunkt für institutionelle Entwicklungsprozesse (vgl. Seukwa 2021, 179ff.). Die Hochschule agiert somit als eine lernende Organisation, welche über die Bereitschaft verfügt, Veränderungsprozesse im Sinne eines transformatorischen institutionellen Lernprozesses zu durchlaufen (vgl. Seukwa 2021, 180; Schroeder 2022, 46f.). Ein zentraler Teil dieses Prozesses stellt die Reflexion institutioneller Diskriminierung dar (vgl. von Blumenthal 2018, 26). Aufgrund des strukturellen Charakters einiger Teilhabehürden muss ebenso "die Rolle von Hochschulen als Teil eines institutionellen Netzwerks" (ebd., 26) sowie das Zusammenwirken mit rechtlichen Rahmenbedingungen adressiert werden. Es bedarf also einer Perspektive auf Hochschulen als Mitgestalterinnen umfassender sozialer Prozesse in Richtung von chancengerechterer Bildungsteilhabe.
Das Ziel stärker chancengerechten Bildungsteilhabe von Menschen mit Flucht*Migrationserfahrungen zu ermöglichen, ist also untrennbar mit der Bereitschaft von Hochschulen verknüpft, Lernprozesse zu durchlaufen, die Veränderungen ihres Regelsystems mit sich ziehen. Nur so ließe sich ein institutioneller Umgang mit flucht*migrationsbedingter Diversität erlernen, der mit dem Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit vereinbar ist.
Literaturverzeichnis:
Berg, Jana/Grüttner, Michael/Schröder, Stefanie (2018): Zwischen Befähigung und Stigmatisierung? Die Situation von Geflüchteten beim Hochschulzugang und im Studium. Ein internationaler Forschungsüberblick. Zeitschrift für Flüchtlingsforschung, 2 (1), S. 57-90.
von Blumenthal, Julia (2018): Integration von Geflüchteten als langfristige und strukturelle Aufgabe von Hochschulen. In: standpunkt:sozial, 2 (2018), S. 22-28.
Bouchara, Abdelaziz (2019): Bildungsbedürfnisse und Hindernisse von Geflüchteten in Deutschland. Eine empirische Studie zu sozialen Netzwerken von Geflüchteten an deutschen Hochschulen. In: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, 18 (2019), S. 53-72. Online unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/62767# (Zugriff: 10.09.2025).
Ebert, Julia/Heublein, Ulrich (2017): Studienabbruch bei Studierenden mit Migrationshintergrund. Eine vergleichende Untersuchung der Ursachen und Motive des Studienabbruchs bei Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund auf Basis der Befragung der Exmatrikulierten des Sommersemesters 2014. Online: https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/Ursachen_des_Studienabbruchs_bei_Studierenden_mit_Migrationshintergrund_Langfassung.pdf (Zugriff: 10.09.2025).
Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2017): Vom Hörsaal in den Betrieb? Internationale Studierende beim Berufseinstieg in Deutschland. Eine Studie des SVR-Forschungsbereichs, Berlin. Online unter: https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2017/12/SVR-FB_Study_and_work.pdf (Zugriff: 10.09.2025).
Fourier, Katharina/Estevez Prado, Rachel/Grüttner, Michael (2020): Integration von Flüchtlingen an deutschen Hochschulen. Erkenntnisse aus den Hochschulprogrammen für Flüchtlinge. Herausgegeben von: Deutscher Akademischer Austauschdienst. Online: https://static.daad.de/media/daad_de/pdfs_nicht_barrierefrei/p43_gefluechtete_teil3_rz_web.pdf (Zugriff: 10.09.2025).
Fourier, Katharina/Zimmermann, Gisela/Estévez Prado, Rachel/Schmitz, Michael/Schlomm, Lisa (2021): Integration von Flüchtlingen an deutschen Hochschulen. Erkenntnisse aus den Hochschulprogrammen für Flüchtlinge. Herausgegeben von: Deutscher Akademischer Austauschdienst. Online unter: https://static.daad.de/media/daad_de/infos-services-fuer-hochschulen/expertise-zu-themen-laendern-regionen/fluechtlinge-an-hochschulen/studie_integration_von_geflüchteten_iv.pdf (Zugriff 10.09.2025).
Hertlein, Andrea/Leiprecht, Rudolf (2019): Der Versuch, globale Bildungsbiographien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren. Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte. In: Darowska, Lucyna (Hrsg.): Diversity an der Universität. Bielefeld: transcript Verlag, S. 179-244.
Heublein, Ulrich/Hutzsch, Christopher/Schmelzer, Robert (2020): Die Entwicklung der Studienabbruchquoten in Deutschland. (DZHW Brief 3|2020). Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Online unter: https://www.dzhw.eu/pdf/pub_brief/dzhw_brief_05_2022.pdf (Zugriff 10.09.2025).
Kultusministerkonferenz (2015): Hochschulzugang und Hochschulzulassung für Studienbewerberinnen bzw. Studienbewerber, die fluchtbedingt den Nachweis der im Heimatland erworbenen Hochschulzugangsberechtigung nicht erwerben können. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03.12.2015. Online: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015_12_03-Hochschulzugang-ohne-Nachweis-der-Hochschulzugangsberechtigung.pdf (Zugriff 10.09.2025).
Morris-Lange, Simon/Lokhande, Mohini/Ho Dac, Mai-Linh (2021): Flüchtlingsintegration und Fachkräftemigration: Welche Rolle spielen Hochschulen? Begleitstudie zu den DAAD-Programmen Integra und PROFI. Herausgegeben von: Deutscher Akademischer Austauschdienst. Online unter: https://static.daad.de/media/daad_de/infos-services-fuer-hochschulen/expertise-zu-themen-laendern-regionen/fluechtlinge-an-hochschulen/studie_fluechtlingsintegration_und_fachkraftemigration.pdf (Zugriff 10.09.2025).
Pineda, Jesús/Kercher, Jan/Falk, Susanne/Thies, Theresa/Yildirim, Hüseyin/Zimmermann, Julia (2022): Internationale Studierende in Deutschland zum Studienerfolg begleiten: Ergebnisse und Handlungsempfehlungen aus dem SeSaBa-Projekt. Herausgegeben von: Deutscher Akademischer Austauschdienst. Online unter: https://static.daad.de/media/daad_de/pdfs_nicht_barrierefrei/der-daad/analysen-studien/daad_sesaba_abschlussbericht_v2.pdf (Zugriff 10.09.2025).
Schroeder, Joachim (2022): Fluchtbedingte Transformationen im Bildungssystem? In: Arouna, Mariam/Breckner, Ingrid/Budak-Kim, Hazal/Ibis, Umut/Meyer, Frauke/Schroeder, Joachim (Hrsg.): Transformationsprozesse am Fluchtort Stadt. Wiesbaden: Springer VS, S. 21-82.
Seukwa, Louis Henri (2021): Von Geflüchteten lernen. Kompetenz und Ressourcenorientierung als Motor einer migrationsbedingten Hochschulentwicklung. In: Baros, Wassilios/Sailer, Maximilian (Hrsg.): Bildung und Kompetenz in Konkurrenz? Wiesbaden: Springer VS ,S. 165-189.
Stern, Alex/Lindemeyer, Mirjam/Tezcan-Güntekin, Hürrem (2018): "Rassistische Witze". Diskriminierungserfahrungen von Studierenden. In: Interculture Journal. Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, 17 (30), S. 11-27. Online unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-58524-2 (Zugriff 10.09.2025).
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