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#Kultur

Neue Repertoirestücke?

Benjamin Scheuer, Komponist und stART.up Alumnus

Nachhaltigkeit ist ein Aspekt, der heutzutage bei der Programmierung von aktueller Musik viel zu selten eine Rolle spielt. Damit ist nicht die Präsentation von Kompositionen gemeint, die sich thematisch auf den Klimawandel und Umweltfragen beziehen. Es geht um fehlende Wiederaufführungen im Bereich der klassischen experimentellen Musik. Den meisten Komponistinnen und Komponisten ist das Dilemma wohlbekannt – Veranstalter inszenieren allzu gerne das Spektakel einer Uraufführung; anstatt die nahezu „frischen“ Stücke dann aber noch ein zweites und drittes Mal zu präsentieren, greifen sie lieber doch auf den altbekannten Kanon und ein paar wenige moderne Klassiker zurück. Dem steht die Idealvorstellung gegenüber, dass ein Stück, nachdem es aus der Taufe gehoben wurde, ins Repertoire aufgenommen wird – entweder von den Uraufführungsinterpretinnen oder -interpreten oder – noch besser – von anderen Musikerinnen und Musikern und an anderen Orten.

Nun ist der Einwand berechtigt, dass nicht jede Neuschöpfung auch ein Meisterwerk ist. Es könnte ein „natürlicher“ Selektionsprozess wirken, der einem Kunstwerk, das es wirklich verdient, wie von selbst beim Überleben hilft. Auch von den bekanntesten Komponistinnen und Komponisten gibt es obskure Stücke, die kaum gespielt werden – manchmal zu Unrecht, manchmal aber auch aus nachvollziehbaren Gründen. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass die Auswahl nie nach objektiven Qualitätskriterien erfolgt. Sie ist abhängig von der vorherrschenden Ästhetik in bestimmten Kreisen, von gesellschaftlichen Verhältnissen, Machtstrukturen und dem zeitgenössischen Geschichtsverständnis. Es ist daher angebracht, einen kritischen Blick auf die vorherrschende Aufführungskultur zu werfen und ihre Bedingungen zu hinterfragen. Ein Beispiel mag die immer stärker voranschreitende kreative Emanzipation von Konzertveranstaltern und Festivalleiterinnen sein. Im Idealfall schaffen sie durch unkonventionelle Ansätze das ideale Ambiente für neue Stücke und locken ein divers zusammengesetztes Publikum. Die Folge von innovativen Konzepten können jedoch bisweilen äußerst spezifische Aufträge sein, die die Künstlerinnen und Künstler zu bloßen Erfüllungsgehilfen des Konzertdesigns degradieren. Die Beauftragung einer tanzbaren Überleitung zwischen Strauß’ Alpensinfonie- und Brett Deans Pastoral Symphony, besetzt mit Alphornchor, E-Gitarre und Solo-Didgeridoo, mag einem Förderantrag zwar das stets gesuchte Alleinstellungsmerkmal verleihen – eine virale Verbreitung eines solchen Werks im Konzertleben ist relativ unwahrscheinlich. Zumeist ereilt aber auch Stücke mit völlig gängigen Besetzungen ein ähnliches Schicksal.

Es ist beachtlich, wie viel Zeit, Kraft, Herzblut und natürlich auch Fördergelder wir Komponistinnen und Komponisten in Projekte investieren, die trotz äußerst erfolgreicher Erstaufführungen gar keine oder nur eine überschaubare Anzahl von Wiederholungen erfahren. Nicht unschuldig ist dabei mutmaßlich auch ein ureigener Antrieb von Künstlerinnen und Künstlern: Wir wollen Neues schaffen, uns stets verbessern, schauen oft kritisch auf „alte“ Kompositionen, wodurch Energie und Motivation fehlen, diese weiterhin auf dem Markt anzupreisen. Außerdem scheinen Wagnisse bei Uraufführungen noch tolerabel zu sein – ein gewisser Widerstand ist hier sogar erwünscht. Geht es jedoch um eine längerfristige Etablierung, setzen sich doch vom Markt bestimmte Kriterien durch. Die größten Überlebenschancen hat, was das Getriebe des klassischen Konzertbetriebs nicht allzu groß aus dem Takt bringt, was angenehm für die Stimme ist, bequem auf dem Instrument liegt, die Ohren etwas kitzelt, aber nicht unnötig provoziert.

Gründe für diese Situation mag es viele geben – ich möchte mich jedoch bewusst nicht mit Schuldzuweisungen aufhalten, sondern stattdessen der einfachen Frage zuwenden: Was kann ich selbst als Komponist zur Veränderung des status quo beitragen? Die Szene kann ich nicht im Alleingang revolutionieren – aber ich kann ihr Angebote machen, die sie nicht so leicht ablehnen kann. Als Künstler begibt man sich dabei allzu schnell auf glattes Eis – der Vorwurf, gefallen zu wollen, wiegt in akademischen Zirkeln schwer. Und auch wenn ich darin im Prinzip nichts Verwerfliches sehe, möchte ich doch einige allzu naheliegenden Wege für mich persönlich ausschließen. Auf den ersten Blick scheint eine einfache Formel zu gelten: Je experimenteller und gewagter, desto kleiner das Publikum. Wer sich hingegen einer gewohnten und greifbaren Idiomatik bedient, dessen Erfolgschancen für die Aufnahme ins Repertoire steigen. Der Anspruch ist hierbei gar nicht die Kanonisierung des verkannten Œuvres in einer fernen Zukunft, sondern regelmäßige Aufführungen in der schnöden Gegenwart. Eine stärkere Rückbesinnung auf vergangene Epochen könnte dabei aus pragmatischen Gründen guttun – ein Beethoven lockt schließlich mehr Hörer ins Konzert als ein Berio. Bekanntlich warnt aber schon Helmut Lachenmann in seinem berühmten offenen Brief an Hans Werner Henze: „Es ist noch lange nicht gesagt, daß einer in der Tradition wurzelt, bloß weil er darin wurstelt.“[1] Dem Geist der verehrten Meister werden wir heutzutage viel eher gerecht, wenn wir nach vorne denken, Neues wagen – weniger durch ihre Reproduktion. Ähnlich geht es mir mit der Methode, Werke der „hohen akademischen Kunstmusik“ mit Referenzen an Popularmusik zu spicken, um mit Gegenwartsbezogenheit aufwarten zu können. Eine poppige Harmoniefolge ist schnell kopiert, die Stringenz einer professionellen Studioproduktion, das ausgefeilte Mikrotiming eines Schlagzeuggrooves oder die überwältigende Bühnenpräsenz eines echten Rockgitarristen sind von klassisch ausgebildeten Akteurinnen und Akteure aber kaum überzeugend nachstellbar, und es stellt sich mir die Frage, ob es für deren Darstellung überhaupt eines partiturenschreibenden Komponisten bedarf. Ich lehne Zitate aus der Pop- und auch der Jazzmusik nicht aus Verachtung diesen Kunstformen gegenüber ab, sondern aus großem Respekt: wenn schon, dann doch besser das Original!

Sehen wir die Suche nach den „neuen Repertoirestücken“ stattdessen als Aufforderung dazu an, neue Wege zu beschreiten: Genauso, wie es vor zwanzig Jahre noch als experimentell galt, sich auf die Suche nach noch unbekannten Spieltechniken und Klängen, Organisationsprinzipien oder Konzepten zu machen, könnte nun danach getrachtet werden, Musik zu schreiben, die spielbar und verbreitbar ist, ohne dabei die üblichen Konzessionen zu machen. Man verstehe diese Herausforderung als ästhetisches Gedankenexperiment: Jede Künstlerin und jeder Künstler hat schließlich die eigenen Grenzen zu definieren, wo seiner oder ihrer Ansicht nach Anpassung beginnt, welche Strategien ihnen Wege öffnen und welche bloße Auswege sind.

Es sei ergänzt, dass Nachhaltigkeit auch im Sinne der Interpretinnen und Interpreten und der Konzertveranstalter ist. Bei einer Zweitaufführung kann man ein Stück vorher anhören und genau beurteilen, ob es in das Programm passt. Die Noten sind pünktlich da, die Musizierenden können sich langfristig vorbereiten, die Schwierigkeiten einschätzen. Und außer den wenigen Menschen, die bei der Uraufführung anwesend waren, hat es doch noch niemand gehört! Erfahrungsgemäß wächst auch die Qualität durch Wiederaufführungen. Ein Stück nach der ersten Präsentation eine Weile liegen zu lassen, führt oft zu einem Reifungsprozess, das gilt nicht nur für Bach und Beethoven. Insbesondere Spezialistinnen und Spezialisten für Neue Musik klagen über die enorme Menge von zu lernendem Text – es kann schrecklich ermüdend sein, ständig neue Stücke zu lernen, um sie dann, gerade erfasst, ein einziges Mal abzufeuern. Die Wenigsten halten das ein ganzes Musikerleben durch.     

Der Titel dieses Artikels trägt aus gutem Grund ein Fragenzeichen – er soll als Denkanstoß dienen und hat nicht den Zweck, verbindliche Lösungen zu präsentieren. Als ich Ende 2021 dank der Unterstützung der Claussen-Simon-Stiftung mit meinem Projekt „Neue Repertoirestücke“ begann, war mir nicht klar, dass ich auch zwei Jahre später noch mit den Folgen beschäftigt sein würde. Das Ziel meines Vorhabens war hoch angesetzt: Ich wollte Stücke schreiben, die nach der Uraufführung ein selbstständiges Dasein und viele Aufführungen erleben würden. Es sollten kleine experimentelle Zugaben werden, die sich möglichst gut in unterschiedliche Konzertprogramme integrieren ließen.

Natürlich muss jede Künstlerin und jeder Künstler einen eigenen Weg finden, je nach Background und ästhetischen Präferenzen. Ich persönlich setze in meiner Musik auf die Verwendung von Alltagsklängen und eine urtümliche Sprachlichkeit. Was heißt das konkret? Jenseits von verständlichen Worten haben Menschen ein riesiges Ausdruckspektrum, das musikalisch erforscht werden kann. Und wenn man sich mit offenen Ohren in der unmittelbaren Umgebung auf die Suche nach Klängen macht, findet sich unglaublich vieles, was kompositorisch weiterverarbeitet werden kann. Um dieses Vokabular zu verstehen, ist keine musikalische Vorbildung nötig. Ungewöhnliche Stimmgeräusche haben den großen Vorzug, dass sie universell, über Sprachgrenzen hinaus, verständlich sind und direkte emotionale Verbindungen herstellen können. Und die Sinnlichkeit eines Spielzeuggeräuschs ist häufig besser nachfühlbar als die einer ausgefallenen Spieltechnik auf einem Streichinstrument, das eigentlich dafür entworfen wurde, Kantilenen zu spielen. Eine Komposition, die aus Lachgeräuschen oder den Klängen von Hundespielzeugen gebaut ist, hat eine Ebene, die intuitiv von jedem Zuhörer und jeder Zuhörerin erfasst werden kann, insbesondere, wenn sie auf humorvolle Weise mit theatralischen Elementen gekoppelt ist. Gleichzeitig ist beim Umgang mit solchem Material ein umso sorgfältigerer und ernsthafterer Ansatz unabdingbar – zu leicht können die Versuchsanordnungen in Klamauk abdriften. Gerne kann die absurdeste Idee in einem Musikstück aufgegriffen werden, wenn sie gut umgesetzt wird – wichtig ist dabei, immer über den kurzzeitigen Effekt, den spontanen Lacher hinauszugehen, auch wenn die Wirkung irgendwann ins Gegenteil kippt.

Für dieses Projekt war es außerdem mein Ziel, Musik in verschiedenen Schwierigkeitsgraden zu schreiben. Ziel ist es, dass auch fortgeschrittene Musikschülerinnen und -schüler und Studierende an Hochschulen ohne Schwerpunkt auf zeitgenössische Musik einige der neuen Stücke aufführen können. Im Rahmen einer Kooperation mit der Musikschule Little Opera e.V. in Rellingen konnte ich bereits einige Miniaturen mit einem jungen Pianisten erproben – für die Aufführung erhielt Leo Tianrui Ding im März sogar einen Sonderpreis beim Landeswettbewerb Jugend Musiziert in Schleswig-Holstein. Für die Entwicklung einiger Stücke für Akkordeon ließ ich mich in einer Coaching-Session von der renommierten Neue Musik-Spezialistin Eva Zöllner beraten, die auch ein übersichtliches und auf die Praxis zugeschnittenes Buch[2] über die Möglichkeiten ihres Instruments veröffentlicht hat.

Grundbedingung ist, keine Aufführungen zu organisieren – die Kompositionen müssen sich von selbst verbreiten. Ich mache mit den Stücken lediglich allen interessierten Musikerinnen und Musikern ein Angebot – ob es zu Aufführungen kommt, liegt in ihrer Hand. Das Vorhaben ist also wenig kontrollierbar. Außerdem bestätigte sich wieder einmal die Erfahrung: Künstlerische Prozesse verlaufen nur selten geradlinig. Gerade das Unbeabsichtigte, Spontane kann am Ende zum wertvollsten Ergebnis, zur wichtigsten Erkenntnis werden. Vielleicht entpuppen sich auch genau die Stücke, die am wenigsten den in diesem Artikel formulierten Bedingungen entsprechen, als besonders nachhaltig. Ob und welche Kompositionen Verbreitung finden werden, ist kaum seriös vorhersagbar und kontrollierbar. Sicherlich haben einige meiner potenziellen Repertoirestücke schon mehrere Aufführungen erfahren. Die Zwischenbilanz ist positiv. Über den Erfolg des Vorhabens lässt sich aber erst in einigen Jahren urteilen.

Letztendlich möchte ich alle Interpretinnen und Interpreten ermutigen, aktuelle Musik zu spielen, die schon uraufgeführt wurde. Und ich möchte an Komponistinnen und Komponisten appellieren, die Nachhaltigkeit ihrer Projekte mitzudenken, aber dafür unkonventionelle Lösungen zu finden. Es stimmt – Rücksichtnahme auf eine Zielgruppe ist im elitären Zirkel der akademischen Kunstmusik verpönt. Warum also nicht provozieren, indem man nun genau das tut – auf eine möglichst intelligente, erfrischende und vielleicht sogar unterhaltsame Weise?

 

Interesse an den Kompositionen?

Im Rahmen des Projekts sind entstanden:

Sprachmaschine für Schlagzeug solo. Neben gewöhnlichen Perkussionsinstrumenten kommen auch diverse ungewöhnliche Klangobjekte zum Einsatz.
Dauer: 8 Minuten
Zielgruppe: Spezialisten
Video mit Partitur: https://www.youtube.com/watch?v=YohO82TNh-M

Zweiundzwanzig Zwischenspiele für Klavier solo.
Dauer: 22 Miniaturen zwischen einer und sechs Minuten
Zielgruppe: von fortgeschrittenen Musikschülern über Profis bis zu Spezialisten (je nach Satz)
Die Partitur ist beim Komponisten erhältlich. (neuemusik@googlemail.com)

Drei Standards für Akkordeon solo.
Dauer: aktuell 6 Minuten
Zielgruppe: weit fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler, Studierende

Diese Sammlung soll zu einem großen Zyklus ausgeweitet werden, mit Miniaturen, die auch von Musikerschülerinnen und -schülern gut zu bewältigen sind.

 

Konzert-Tipp!

21. Oktober | Sieben Unsympathen

Ein aktueller Liederabend mit Musik von Benjamin Scheuer auf Texte von Dorian Steinhoff in TONALi SAAL. Mehr Informationen hier.

 


Fußnoten

[1] Helmut Lachenmann, “Offener Brief an Hans Werner Henze”, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.), Musik-Konzepte, Heft 61/62, Helmut Lachenmann, München 1988, S.13

[2] https://are-verlag.de/produkt/eva-zoellner-komponieren-fuer-akkordeon-composing-for-the-accordion-de-en/

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