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#Kultur

Theater entsteht im Tun. Ein persönlicher Rückblick auf den Austausch "Intercambio teatral"

Foto von Nora, Leitung des Workshops.

Nora Kühnhold, stART.up

Im Juni 2025 besuchten mein argentinischer Theaterprofessor Raúl Reyes und seine Assistentin Lucila Ale im Rahmen des von der Claussen-Simon-Stiftung mitgeförderten Austauschs „Intercambio teatral“ Hamburg (Blogartikel zum Workshop in Argentinen), um gemeinsam mit mir drei Workshops für unterschiedliche Zielgruppen zu geben. Zusammen mit dem*r in Hamburg lebenden Theatermacher*in Noa Noelani und dem in Berlin lebenden Kultursoziologen Pablo Salas Tonello, beide ebenfalls aus Argentinien, wollten wir einen Einblick in argentinische Theaterpraktiken und kulturpolitische Konflikte geben.

Mit dem Austausch sollte Raúl Reyes‘ Arbeitsweise in den unterschiedlichen Kontexten, in denen ich mich bewege, vorgestellt werden. Wir boten einen Workshop für Teilnehmer*innen von Linde*, einer von Noa Noelani und mir organisierten wöchentlichen Community-Theatergruppe in Wilhelmsburg, an. Ein weiterer Workshop richtete sich an Stipendiat*innen der Claussen-Simon-Stiftung und im dritten Workshop hatte ich Theaterschaffende eingeladen, mit denen ich zusammenarbeite oder gerne zusammenarbeiten möchte. Meine Rolle war es, zu übersetzen und zu vermitteln. Da ich Raúls‘ Theateransatz und die Stadt Tucumán, in der er lebt und arbeitet, sehr gut kenne, hat mir das eine riesige Freude bereitet – auch wenn sechs Stunden simultan zu übersetzen, eine gewisse Herausforderung ist.

Seitdem ich 2007 noch als Schüler*in in Raúl Reyes‘ Kursen Theater gelernt habe, verbindet uns ein kontinuierlicher Austausch. In unserer weiteren Zusammenarbeit über die Jahre entstand der Wunsch, uns gemeinsam die Zeit zu nehmen, in Hamburg unterschiedliche Zielgruppen mit Workshops zu erreichen. Während ihrer Zeit hier in Hamburg und unseres Projekts wurde deutlich, dass Raúl Reyes‘ und Lucila Ales Theateransatz auf Kontinuität und Beziehungsaufbau basiert und dass die spannendsten Erkenntnisse im Austausch von „Probieren, irritiert sein, etwas anders machen“ entstehen. Es bleiben also noch offene Fragen für gemeinsame Workshops in der Zukunft.

Ein paar Blitzlichter besonderer Momente

Beim ersten Workshop sah sich meine seit Januar bestehende Theatergruppe Linde* plötzlich mit einer anderen Theatergeschwindigkeit konfrontiert. Ich dachte, ich arbeite mit vielen von Raúls Methoden, aber während des Workshops merkte ich: Ich mache alles viel langsamer als er! Mein Gedanke dahinter ist, dass ich niemanden überrumpeln möchte und den Teilnehmenden eine Entscheidungsfreiheit ermöglichen will. Im Workshop merkte ich, dass ihnen die sehr zackige und schnelle Art von Raúl Spaß macht und nicht per se Grenzen überschreitet.

Eine Herangehensweise, die mir im deutschen Kontext vor lauter Anträgen und Konzepten immer wieder droht, verloren zu gehen: Theater aus dem Tun zu begreifen und nicht zu versuchen, im Vorhinein zu konzeptualisieren, was vermutlich passiert oder passieren könnte. Das befreit beim Improvisieren – Sortieren und Konzeptualisieren kann man immer noch.

Raúl und ich können Generationskonflikte mit Verve und Zuneigung austragen: Warum ist es für ihn eine „neutralere“ theatrale Situation, wenn ein heterosexuelles Paar sich trennt und die Tochter es dem Vater beichten will, dass die Beziehung in die Brüche gegangen ist, als wenn ein lesbisches Paar einen Hund adoptiert? Was sind theatrale Grundsituation und was ist „besonders“? Was heißt es, politisches Theater zu machen? Und warum bedeuten queere Perspektiven keine Einschränkung der Spielmöglichkeiten durch „moralisches Polizieren“ (Raúls Position), sondern eine Erweiterung theatraler Grundsituationen (meine Position)?

Im zweiten Workshop lerne ich Stipendiat*innen aus anderen Stipendienprogrammen der Claussen-Simon-Stiftung kennen: Ein Alumnus, der normalerweise kein Theater macht, ist geflasht von der Energie, die Theater im Raum freisetzen kann und wie man sich als Gruppe auf eine andere Art und Weise begegnen kann. Eine Gruppe, die sich im gemeinsamen Spielen kennenlernt und immer wieder begegnet, das war das, was mich in Tucumán so fasziniert hatte und meinen Wunsch, Theater beruflich zu machen, bestärkt hatte.

Während „48h Stunden Wilhelmsburg“, an einem der ersten lauen Sommerabende, ist es schwer, ein Publikum für unseren Vortrag „Argentinischer Widerstand gegen die Kulturpolitik von Milei“ zu finden, also setzen wir uns mit unseren zwei Gästen auf den Bürgersteig und diskutieren in lockerer Runde. Die Diskussion ist für mich unglaublich spannend. Pablo, Noa, Raúl und Lucila bewerten die aktuelle Kulturpolitik sehr unterschiedlich. Während alle sich darüber einig sind, dass Javier Mileis Kürzungen im Kulturbereich nicht nur ökonomischer, sondern auch ideologischer Natur sind, geht die Einschätzung zu der eher linken Vorgängerregierung weit auseinander. Ist Kulturpolitik nicht immer ideologisch? Wie wichtig ist ökonomische Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen? Was unterscheidet die freie Theaterszenen in Argentinien von der in Deutschland?

Raúl und Lucila kommen am Wochenende an, an dem in Hamburg das Freie Szene Festival „Fringify“ stattfindet. Wir gehen zu unterschiedlichen Aufführungen und treffen Freund*innen und Kolleg*innen von mir. Während eines gemeinsamen Abendessens frage ich im Namen von Raúl und Lucila Kolleg*innen viel genauer nach ihrer Arbeitsweise und erfahre spannende Infos beispielsweise über das Produzieren auf Bauernhöfen und Aufführungszeiten abhängig vom Sonnenlicht.

Ich höre Teilnehmer*innen Fragen stellen, mit denen ich mich auch schon beschäftigt haben: Wie soll das gehen, dass auch die Themen der Stücke erst in der Improvisation entstehen? Durch Vertrauen der Spielenden zu einander, eine andere Handlungsmacht der Schauspieler*innen und durch Zeit.

Im dritten Workshop sitzt eine große Gruppe Theaterschaffender zusammen und tauscht sich darüber aus, wonach sie im Theater suchen: Welche Formen gibt es, das Konzept Rolle aufzulösen? Ein Schauspieler sagt zu mir: „Ich finde es spannend, Reyes zuzuhören. Ich glaube, ich verstehe, was er meint, aber irgendwie kenne ich die Konzepte unter anderen Namen und mit anderen Bezügen.“ Eine Regisseurin sagt: „Der Workshop stößt für mich einen inneren Monolog an: wo gehe ich mit und wo auch nicht? Dadurch denke ich nochmal über meine Arbeitsweise nach.“

Auch meine Theatergruppe Linde* nimmt durch den Austausch an Fahrt auf: Es schließen sich noch einige Teilnehmende der Workshops an. Und am letzten Tag von Raúl und Lucila in Hamburg organisieren wir ein Abschiedskuchen-Essen, zu dem fast alle kommen.

„Intercambio teatral“ in Wilhelmsburg – eine bereichernde, intensive Zeit

Mir war es wichtig, das Projekt in Wilhelmsburg zu verorten, weil ich hier im Stadtteil lebe und Theater produziere. Durch das Projekt konnte auch ich neue Verbindungen im Stadtteil aufbauen und mich mit Wilhelmsburger Kulturorten wie der Honigfabrik und dem RIA Stadtteilzentrum intensiver vernetzt und bin auch über andere Kooperationen ins Gespräch gekommen.

Der zweite Teil von „Intercambio teatral“ war eine aufregende und bereichernde Erfahrung, die ich in ihrer Vielseitigkeit immer noch zu greifen versuche. Einen Austausch ganz allein und außerhalb einer Institution zu organisieren, war viel Arbeit. Ich habe viel gelernt: Wie erreiche ich Zielgruppen? Wer könnten spannende Austauschpartner*innen für Raúl und Lucila sein? An welche Kulturveranstaltungen kann ich mich ankoppeln? Wie gehe ich mit einem knappen Budget um, wenn die Flüge plötzlich teuer werden? Wie kann ich einen Raum gestalten, in dem sich Teilnehmende wohl fühlen, und wir schnell in einen intensiven Austausch kommen? Wie vermittelt sich eine Arbeitsweise in kurzer Zeit?

Meine konsequente Vorbereitung und auch die vorausgegangenen intensiven Gespräche mit Raúl haben sich gelohnt. Ich bin sehr dankbar für all die Gesprächs- und Spielräume, die sich durch dieses Format entwickelt haben, für die kleinen Momente, die Verwunderungen und Irritationen und das Vertrauen, das Raúl und Lucila und auch die Teilnehmenden mir entgegengebracht haben. Ich würde mich gern häufiger in solchen Räumen bewegen und werde versuchen, weitere Austauschformate anzustoßen.

Stimmen meiner argentinischen Austauschpartner*innen:

Danke, Nora, für deine wertvolle Arbeit. Danke an die Claussen-Simon-Stiftung für die Ermöglichung dieses theatralischen und solidarischen Austauschs, der es uns ermöglicht hat, zu wachsen, zu denken und Theater zu leben, wie das Leben gelebt wird: kollektiv, als Gruppe. Eine Begegnung zwischen verschiedenen Theatralitäten, die durch das Wesentliche vereint sind: das Schauspiel. Taller Tucumán und Hamburg, näher denn je.“ Raúl Reyes und Lucila Ale

Der theatralische Austausch, der im Workshop stattgefunden hat, ist pure Inspiration; gleichzeitig fühlt sich der kulturelle Austausch definitiv notwendig an, um die Kluft zwischen unseren unterschiedlichen Weisen des Daseins und der künstlerischen Schöpfung ein Stück weit zu überbrücken. Ich bin dankbar, dass das Feuer meiner Leute auch durch die Hände anderer Menschen bis hierhergetragen wird.“ Noa Noelani

 

 

Fotos: Santiago González Moncada

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