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#Bildungsgerechtigkeit #Wissenschaft

Was wir voneinander lernen können – und sollten

Susann Rothe, Stipendiatin bei Dissertation Plus

Ich bin Ingenieurin. Ich habe Elektrotechnik studiert, mich in die Geräte-, Mikro- und Medizintechnik vertieft und promoviere jetzt im Bereich der Zuverlässigkeit mikroelektronischer Schaltkreise.

In den meisten Fällen bekomme ich auf diese Information hin immer dieselben Reaktionen: „Wow, das könnte ich ja nicht. Das ist doch total viel Mathe und Physik!“ und „Da bist du bestimmt eine von ganz wenigen Frauen, oder?“. Seltener werden auch direkt die Klischees ausgepackt: „Da bist du ja nur unter Nerds, stört dich das nicht?“. Dabei fallen mir zwei Dinge immer stärker auf. Erstens fragen fast nur „Insider“ weiter, was genau ich mache. Oder ob es mir Spaß macht, ob ich gut vorankomme und wie meine Zukunftspläne sind. Was meine Motivation war. Menschen, die selbst keinen MINT-Hintergrund haben, scheinen von Anfang an zu denken, dass sie die Details sowieso nicht verstehen. Zweitens versuche ich mich in Schüler:innen hineinzuversetzen, die selbst überlegen, einen technischen Beruf zu ergreifen. Diese „bewundernden“ Reaktionen können auch abschrecken – denn sie induzieren automatisch die unsichere Frage: „Kann ich das überhaupt?“.
Unterstützt wird das durch unsere merkwürdige Beziehung zu Technik. Wir kaufen betriebsfertige Geräte, wie Smartphones, PCs, Router oder auch einfach eine Waschmaschine. Wir nutzen fertige Programme, verbringen viel Zeit im Internet und in sozialen Netzwerken. Ohne Technik würde unser heutiges Leben gar nicht mehr funktionieren. Gleichzeitig ist das Wissen über diese Technik in der Gesellschaft kaum vorhanden. Was ist ein Transistor und wie funktioniert er? Wie schreibt man ein einfaches Programm? Was versteckt sich hinter dem allgegenwärtigen Begriff „Künstliche Intelligenz“? 

Würde das alles zum gesellschaftlich geforderten „Allgemeinwissen“ zählen, könnten wir sowohl globale Fragen besser adressieren als auch unsere persönliche Arbeit optimieren. Wir würden zum Beispiel verstehen, welchen Energieverbrauch unser Surfverhalten hat. Wir hätten ein Bewusstsein für den Rohstoffkreislauf elektronischer Produkte. Wir könnten aber auch repetitive Aufgaben am PC durch ein paar Zeilen Code automatisieren oder ein kaputtes Gerät reparieren anstatt es zu ersetzen. Wir wären uns bewusst, wie unsere Daten im Netz an KIs und Datenbanken verfüttert werden und könnten selbst entscheiden, in welchem Maße wir das zulassen möchten.

Meiner Meinung nach kann und sollte diese grundlegenden technischen Zusammenhänge jede:r verstehen. Allerdings gibt es in der Realität wenige Angebote, bei denen sie einfach, strukturiert und anschaulich vermittelt werden. Die Lehrpläne der Schulen hängen der Entwicklung der Technik um Jahre hinterher. Die technischen Geräte, welche wir täglich in der Hand haben, sind viel zu komplex, um sie ohne Vorkenntnisse zu verstehen. Um ehrlich zu sein, dafür reicht auch kein abgeschlossenes Studium. Wir als Ingenieur:innen lernen aber, diese komplexen Systeme in Module aufzuteilen und deren prinzipielle Funktion zu erfassen. Wir müssen modularisieren und abstrahieren, um Entwicklungsaufgaben auf spezialisierte Teams aufzuteilen und damit überhaupt realisierbar zu machen.
Dieses „Denken in Systemen“ (was übrigens das Motto unserer Fakultät ist) kennen wir aus allen Bereichen des menschlichen Arbeitens. Wir teilen eine Aufgabe auf, definieren Schnittstellen und geben sie dann in die Hände der Spezialist:innen. Sei es beim Kochen, beim Unterrichten an der Schule oder wenn es darum geht, ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen.

Dieser Ansatz kann nun auch funktionieren, wenn es darum geht, ein allgemeines gesellschaftliches Verständnis für technische Systeme zu entwickeln. Ich persönlich sehe dabei vor allem uns Ingenieur:innen in der Verantwortung: Wir müssen es schaffen, unsere Arbeit einfach und verständlich zu erklären. Egal ob im großen Rahmen der Wissenschaftskommunikation oder im Kleinen auf die Frage, an was wir denn eigentlich arbeiten. Meine Erfahrung ist, dass man über Vergleiche mit alltäglichen Beispielen oder mit bildlichen Erklärungen jedes Thema zumindest grundlegend verständlich machen kann. 

Ich bin mir sicher, dass wir damit viel mehr erreichen, als nur Wissen zu vermitteln. Wir können zum Beispiel die Befürchtungen abbauen, die unseren Studiengängen aktuell entgegengebracht werden. Der Fachkräftemangel – gerade in der Mikroelektronik – ist enorm. Wenn sich nun mehr Ingenieur:innen heraus trauen und von ihrer Arbeit erzählen, schaffen wir Vorbilder, bauen Klischees ab und vermitteln vor allem eine Vorstellung der vielen Einsatzgebiete, in welchen man sich spezialisieren kann. Wir könnten zeigen, wie vielfältig und vor allem alltagsrelevant unsere Arbeit ist. 

Vorbilder sind auch enorm wichtig, um zu zeigen, dass die Technik nicht den Männern vorbehalten ist. Die Ingenieurwissenschaften leben von kreativen Ideen; „thinking out of the box“ ist essenziell, um innovative Lösungen zu finden. Je diverser ein Team, desto vielfältiger sind die Sicht- und Denkweisen, die von den Teammitgliedern eingebracht werden. Wir brauchen also unbedingt mehr Frauen (um nur ein Beispiel zu nennen), um zukunftsfähig zu bleiben. Ich habe allerdings selbst die Erfahrung gemacht, dass meine Vorlesungen fast ausschließlich von männlichen Professoren gehalten werden. Das unterstützt natürlich das Bild der Männerdomäne und schreckt Frauen weiter ab.

Die Ingenieurwissenschaften sind auch nur ein Beispiel von vielen Disziplinen, die hinter verschlossenen Türen betrieben werden. Ich möchte genauso lernen, womit sich andere Wissenschaftler:innen beschäftigen, wie es ist, als Journalistin zu arbeiten, oder welchen Herausforderungen man als Erzieher täglich begegnet. Erzählt mir davon, traut mir zu, dass ich euch verstehe und seid euch sicher, dass ich nachfrage, wenn nicht. Wir können uns gegenseitig so viele interessante Dinge beibringen.

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