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#Bildung #Coronazeit #Kultur

Kann man Tanzen online lernen?

Marisa Berg, Stipendiatin bei Dissertation Plus

Wenn wir daran denken, wie man tanzen (lernen) kann, was kommt uns dann in den Sinn?

Denken wir an Lehrer:innen, Turnhallen, Extraproben, Tutus, Freundschaften? Vielleicht an eine lange zurückliegende Tanzstunde, vielleicht aber auch an diesen besonderen Bewegungs-Flashmob, bei dem wir kürzlich teilgenommen haben? Vielleicht resoniert ja sogar in uns noch die Erfahrung an das euphorisierende Gefühl nach einer gemeinsamen Performance mit Anderen, vielleicht weiß jemand genau, was ein „Plié“ ist, macht sich bei einem lauten „ ... 5, 6, 7, 8!“ bereit oder hat zu einer bestimmten Musik schon eine choreografierte Bewegungsabfolge im Kopf. Tatsache ist: Während ich – als Kind der Neunziger – mein Tanzenlernen vor allem in wöchentlichem Unterricht in verspiegelten Sälen mit beschlagenen Studiofenstern verorte (in Räumen, in welchen der Handyempfang auch nur manchmal dafür ausreichte, um daheim per SMS Bescheid zu geben, dass ich den Bus wohl verpassen würde), sind Tanzpraktiken heute inzwischen längst im digitalen Raum präsent.

Menschen tanzen in Live-Formaten, dokumentieren ihre Probenprozesse per Video, partizipieren in viralen Dance Trends in Apps, lesen Tanzblogs online oder halten sich im Newsfeed über aktuelle Performances auf dem Laufenden. Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie hat die Tanz(vermittlungs)szene von einem enormen Digitalisierungsschub profitiert und das digitale Lernen ist zur kurz- oder längerfristigen Realität vieler Tänzer:innen geworden. Dieses zunehmend „informelle“ – das heißt in diesem Fall, nicht an eine spezifische Institution oder Ausbildungsstruktur angebundene – Tanzenlernen unterscheidet sich in vielen Fällen nicht nur von beispielweise hierarchisch präfigurierten Lehrsettings wie institutionalisiertem Unterricht an einer Tanzschule oder im Verein. Auch bietet es neue Möglichkeiten der Interaktion, Vernetzung, des Feedbackings und des Austauschs über Machtstrukturen, Tanzverständnisse, Körperideale – also grundlegende Fragen der Vermittlung. Mehr denn je wird deutlich: „Die klassische Bildungskonstellation von Lehren, Lernen und Wissen ändert sich durch die Digitalisierung grundlegend.“ (Rat für Kulturelle Bildung 2019: 8)

Formate digitaler Tanzvermittlung bzw. Lernkulturen Tanzender sind der Gegenstand der Forschung im Rahmen meiner Promotion und damit auch Ausgangspunkt des folgenden Nachdenkens über Lernen, Wissen und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter. Obwohl kulturelle Bildung wie auch die Forschung dazu in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat, wird eine pädagogisch wertvolle Vermittlung jedoch weiterhin vorrangig einem „klassischen“ Unterricht zugeschrieben und das (autodidaktische und) individuelle Lernen und Tanzen von Menschen etwa in der Auseinandersetzung mit medialen Inhalten dem hierarchisch untergeordnet. Informelle Lernprozesse, wie sie insbesondere nun einmal das Tanzenlernen zum Beispiel Jugendlicher über TikTok oder YouTube prägen, werden damit bewusst oder unbewusst – wohl auch, weil sie gegebenenfalls schwerer zu erfassen sind – als weniger bedeutsam, weniger relevant oder weniger wertvoll diskreditiert. Dabei eignen sich die im digitalen Raum herausbildenden Phänomene in besonderem Maße dazu, unsere Verständnisse von „Bildung“, „Wissen“ und „Vermittlung“ zu hinterfragen und in zeitgemäßem Kontext zu erweitern. Denn: Wenn Jugendliche durch TikTok scrollen, sich selbst beim Tanzen(lernen) filmen, Tanz-Tutorials und Online-Videos kommentiert, gelikt und geteilt werden – wenn Menschen „online“ zusammen tanzen (lernen), sind solche klassischen Ideen von Bildung (die Digitales nur peripher allenfalls als „Tool“ wahrnehmen) wenig zielführend.

Vor der These, dass sich in einer so gedachten „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2021) neue Wissensgemeinschaften konstituieren, möchte ich am Beispiel von ästhetisch Praktizierenden – in diesem Fall spezifisch Tänzer:innen – aus der tanzwissenschaftlichen Forschung kurz skizzieren, wie „Lernen“ sich so ausgestaltet und aus Forschungsperspektive begreifen lässt.

Statt also von einem konventionellen Lehr-Lern-Setting auszugehen, möchte ich im Folgenden als Alternative die Denkfigur der „virtuellen Praxisgemeinschaft“ (Berg 2022) vorschlagen. Diese bindet an an das theoretische Modell der „Communities of Practice“ aus dem ursprünglich lerntheoretischen Kontext (Lave/Wenger 1991). Nachdem bisherige Lerntheorien den sozialen Aspekt ausgeschlossen haben, argumentieren die Autor:innen dafür, Lernen als partizipativen Prozess in Praxisgemeinschaften zu verstehen. Seither wurde der Begriff der Praxisgemeinschaft in verschiedenen Kontexten aufgerufen, zum Beispiel rund um die Weiterbildung im erziehungswissenschaftlichen Kontext, aber auch im Arbeits- und Unternehmensbereich, wenn es um Wissensmanagement geht, und auch in die Tanzwissenschaft hat er Eingang gefunden (Müller 2015). Entwickelt hat sich das Modell aus dem grundlegenden Verständnis, dass überall dort, wo Menschen etwas gemeinsam praktizieren, Lernen stattfindet und Wissen generiert wird.

Die zentralen Charakteristika einer Praxisgemeinschaft sind zunächst einmal „domain“, „practice“ und „community“ (Wenger 2009). Das bedeutet, Zugehörige von Praxisgemeinschaften zeichnen sich über ein verbindendes Interesse und ein kollektives Anliegen aus (domain) und eine dahingehend geteilte Praxis (practice), die sie in gemeinsamen Aktivitäten interaktiv ausüben (community). Gleichzeitig gilt das Leben selbst als „main learning event“ (ebd.: 5). Obwohl dieses Konzept der Praxisgemeinschaft(en) also bereits vor dreißig Jahren eingeführt und diskutiert wurde, ist es gerade diese darin implizite Haltung, die es auch auf eine heutige (post-)digitale* Gesellschaft anwendbar macht. Selbst wenn sich Praxis und Gemeinschaft in Zeiten der Digitalisierung verändert haben und verändern, sind so gedachte „Praxisgemeinschaften“ nicht zwangsläufig festgelegt auf eine Kopräsenz, sondern ermöglichen gerade mitzudenken, dass Teilnehmende über das Internet teilhaben, ohne dass sie sich am selben Ort befinden. Das verändert erst einmal den Blick auf die potenzielle Teilnehmenden- oder Zuschauer:innenschaft, denn während ein Tanzunterricht in der Regel selten mehr als zwanzig Schüler:innen fasst, verzeichnen zum Beispiel Tanzunterrichtsvideos auf YouTube teilweise mehrere Millionen Klicks. Das Besondere an diesen Videos ist, dass Nutzende diese nicht nur online anschauen, sondern die Rezeption oftmals von einem aktiven körperlichen Involvement flankiert wird. Das bedeutet: Tausende Menschen tanzen (virtuell) und fühlen sich in diesem „gemeinsamen“ Praktizieren einer Tanz-Community zugehörig, sie berichten von einem Gefühl der Verbindung und Gemeinschaft untereinander. So lauten etwa Kommentare zu solchen Tanzvideos: „Also very happy to feel connected to dancers in the whole world“ oder „Amazing thing about dancing is we can all do [it] together no matter where we are“ (Material aus der Feldforschung, teilnehmende Beobachtung 2021). Besonders spannend wird das, wenn wir diese „Teilhabe“ spezifischer aufschlüsseln, denn teilhaben heißt im Kontext digitaler Formate auch: kommentieren, verlinken, sich vernetzen, interagieren. Wenn sich tanzende Nutzer:innen so in Kommentaren über Lernprozesse austauschen, ihre Erfahrungen mit(einander-)teilen, sich Tipps geben oder sich Kompliz:innen suchen, wenn sie selbst vor Schwierigkeiten stehen, dann wirft dies auch neue Perspektiven auf Online-Communities als „Wissensgemeinschaften“. Tänzer:innen verständigen sich über Fachbegriffe, entwickeln spezifisches Vokabular und führen humoristisch „Insider“ aus dem Feld an – sie artikulieren spezifisches Feldwissen und tauschen sich darüber aus.

Um zu verdeutlichen, wie eine solche Vergemeinschaftung von Wissensinhalten die (kulturelle) Vermittlungslandschaft verändern kann, ist auch ein Blick auf den Zugriff fruchtbar: So sind zahlreiche der Inhalte öffentlich verfügbar (d. h. für alle mit Internetzugriff) wie auch zumeist kostenlos für die Nutzenden. Am konkreten Beispiel einer Kommentierenden zeigt sich außerdem, dass sich Möglichkeiten auftun, abseits repressiver (impliziter) Normen digital Zugänge zum Tanzenlernen zu finden: „As a plus size woman, I have always been scared to try ballet because I’m scared people will laugh. Doing this at home made me cry I was so happy. I’ve tried it and absolutely love it!“ (Material aus der Feldforschung, teilnehmende Beobachtung 2021). Es geht im Austausch der Nutzenden also nicht nur um thematisches und tanzaffines Wissen, sondern auch um übergreifende Setzungen und Normen, die verhandelt und diskutiert werden. Daraus resultieren letztlich Gemeinschaften, die sich auch diverser zusammensetzen (können). Solche virtuellen Gemeinschaften bieten also das Potenzial, Tanzenlernen partizipativer, zugänglicher und inklusiver zu gestalten und Wissen nicht in Lehrer:in-Schüler:in-Hierarchien in herkömmlichen Formaten kultureller Bildungsangebote zu verorten, sondern als kollektiv hervorgebracht zu verstehen.

Um nach dieser kurzen Gedankenskizze abschließend nochmals zurückzukommen auf die einleitende Frage: Woran lässt uns der Begriff des Tanzenlernens denken – und welche Perspektive eröffnet sich mit einer solchen Denkfigur der Wissensgemeinschaften für das Tanzenlernen?

Praxisgemeinschaften können dort als Modell dienen und Geschehen erklärbar machen, wo Lernen als (informelle) soziale Situation ins Zentrum gerückt werden soll. Das ermöglicht es perspektivisch, Wissen nicht zu einem „Gut“ zu degradieren, das in einer intendierten Lehrsituation transferiert wird, sondern macht dessen Aushandlung in sozialen Gefügen erfassbar. Eine Fokussierung auf Lehr-Lern-Settings, die oft als Fundament von Bildung herangezogen werden, ist aus meiner Sicht für den digitalen Kontext obsolet. Insofern können wir viel vom digitalen Lernen „lernen“. Es bedarf neuer Konzepte wie etwa dem virtueller Praxis- und Wissensgemeinschaften, wie ich es hierfür exemplarisch aufgerufen habe. Wir erfahren bereits, wie sich die kulturelle Bildungslandschaft verändert, wie digitale Plattformen, Apps und Medien längst selbstverständlich unseren Alltag mitprägen – dies auch für das Lernen mitzubedenken, ist nicht nur notwendig, sondern kann wertvolle Impulse bieten für die Gestaltung und das Verständnis einer sogenannten „Vermittlung“. 

 

* Zeitgenössische Diskurse zur Postdigitalität verhandeln, dass das Digitale gewissermaßen selbstverständlich im Alltag verwoben ist und hier eine Trennung zwischen analog und digital nicht unbedingt sinnig ist. 


Literatur: 

Berg, Marisa (2022): „‚To Feel Connected to Dancers in the Whole World‘. Digitale Tanzvermittlung: Virtuelle Gemeinschaften und Praktiken des Mit(einander)-Teilens“, in: Sevi Bayraktar/Mariama Diagne/Yvonne Hardt/Sabine Karoß/Jutta Krauß (Hg.), Tanzen/Teilen – Sharing/Dancing, Bielefeld: transcript, S. 213-232.
Lave, Jean/Wenger, Etienne (1991): Situated learning. Legitimate peripheral participation (= Learning in doing), Cambridge: Cambridge Univ. Press.
Müller, Sophie M. (2015): „Fabrikation körperlicher Zugehörigkeit: Das Ritual des Balletttrainings“, in: Robert Gugutzer/Michael Staack (Hg.), Körper und Ritual. Sozial- u. kulturwissenschaftliche Zugänge und Analysen, Wiesbaden: Springer VS, S. 311-334.
Rat für Kulturelle Bildung (Hg.) (2019): Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung. Studie: eine repräsentative Umfrage unter 12- bis 19-Jährigen zur Nutzung kultureller Bildungsangebote an digitalen Kulturorten. Essen: Rat für Kulturelle Bildung e.V (Horizont, 2019), https://www.mkmnoe.at/fileadmin/content/Corona/PDFS_LITERATUR/Youtube_Rat_f%C3%BCr_kulturelle_Bildung.pdf
Stalder, Felix (2021): Kultur der Digitalität. Originalausgabe, 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp (edition suhrkamp, 2679).
Wenger, Etienne (2009): Communities of Practice. A brief Introduction, https://www.ohr.wisc.edu/cop/articles/communities_practice_intro_wenger.pdf, verifiziert am 28.10.2022.

Foto: Andrija Nikolic/iStock

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