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#Bildungsgerechtigkeit #Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation

Zählt ethnische Identifikation noch immer?

Anastasiia Marsheva, Alumna bei Master Plus

Vor einer Weile kursierte im Internet eine Frage: “If I asked you to name all the things that you love, how long would it take for you to name yourself?” Ich möchte eine ähnliche Frage stellen: „Wenn man Sie bitten würde, alles, was Sie ausmacht, aufzuzählen, wie lange würde es dauern, bis Sie Ihre ethnische Identifikation erwähnen?“ Je nach Lebensumständen kann die Antwort selbstverständlich unterschiedlich ausfallen, aber ich habe nie erlebt, dass ethnische Identifikation zuerst genannt wird, wenn überhaupt. In diesem Beitrag möchte ich trotzdem darlegen, warum ich denke, dass die ethnische Identifikation noch zählt. Denn durch die Beschäftigung mit diesem Thema im Rahmen meines Dissertationsprojekts habe ich gelernt, wie vielschichtig der Prozess der ethnischen Identifikation ist.

Meine Ausführung zu der Frage, die im Beitragstitel gestellt ist, möchte ich mit einem Zitat des Soziologen Richard Jenkins beginnen: “Many of us, much of the time, are able to take identity for granted. […] Sooner or later, however, a time arrives when identity becomes an issue” (Jenkins 2014: 1). Diese Zeilen beschreiben auch meine Erfahrung mit dem Begriff ‚Identität‘. Bis vor einem halben Jahr hielt ich ‚Identität‘ für selbstverständlich. Bis der Begriff oder eher das Konzept in meinem Leben zum Problem wurde, als ich meine Promotion am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Oktober 2022 begann. 

Für neue Promovierende wird am GCSC eine dreiteilige Master Class „Concepts in the Study of Culture“ angeboten, die in die konzeptbasierte Erforschung der Kultur einführt. Da das Konzept ‚Identität‘ zentral in meinem Dissertationsprojekt ist, führte kein Weg an der Auseinandersetzung damit vorbei. Die konzeptbasierte Erforschung der Kultur am GCSC erfolgt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv in Arbeitsgruppen und Forschungsbereichen. Seit November 2022 durfte ich die Rolle der Co-Sprecherin des Forschungsbereichs „Kulturelle Identitäten“ übernehmen. In diesem Forschungsbereich sind Promovierende aus der Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaft, der Soziologie, Archäologie und den Cultural Heritage Studies vertreten. Das Konzept der kulturellen Identitäten hilft uns als gemeinsamer Nenner, in Austausch zu treten und uns von Methoden und Perspektiven anderer Disziplinen inspirieren zu lassen. Der intensive Austausch und die Diskussionen der wissenschaftlichen Artikel mit meinen Mitdoktorand:innen in diesem Forschungsbereich half mir, das Konzept der Identität zu hinterfragen.

Nach der Reflexion der eigenen Vorgehensweise und der intensiven Literaturrecherche zum Thema ‚Identität‘ wurde mir klar, dass ich dieses Konzept unbewusst und implizit als ein Ding verwendete, das unabhängig von Ort, Zeit, gesellschaftlichen Dynamiken und politischen Ereignissen existieren kann – was nicht stimmt. In ihrem Artikel „Jenseits der ‚Identität‘“ kritisieren der Soziologe Rogers Brubaker und der Historiker Frederik Cooper (2007) die Verwendung des Identitätsbegriffs als eine analytische Kategorie, zeigen viele widersprüchliche Anwendungsbereiche des Begriffs auf und schlagen alternative Begriffe vor. Eine der Bedeutungen, in der der Begriff verwendet wird, ist die „prozessuale, interaktive Entwicklung jener Art von kollektivem Selbstverständnis, Solidarität oder Zusammengehörigkeitsgefühl […], die kollektives Handeln möglich machen kann“ (Brubaker/Cooper 2007: 57). 

Diese Art der Entwicklung möchte ich in meinem Dissertationsprojekt untersuchen. Einer der zu Brubakers und Coopers alternativen Vorschläge ist der Begriff ‚Identifikation‘, der den prozessualen Charakter des Phänomens betont. Angepasst an den Untersuchungsgegenstand meines Forschungsprojekts verwende ich den Begriff ‚Identitätskonstruktion‘, um nicht nur den prozessualen Charakter des Phänomens zu unterstreichen, sondern auch auf die Ergebnisoffenheit des Prozesses und auf die Rolle von Akteur:innen und äußeren Einflüssen hinzuweisen, die diese Entwicklungen konstruieren oder ihre Konstruktion entscheidend prägen. Wie der Titel des Beitrags bereits verrät, interessiert mich eine bestimmte Art der Identitätskonstruktionen – ethnische Identitätskonstruktionen. In meinem Dissertationsprojekt verwende ich den Begriff ‚Ethnizität‘ im sozialanthropologischen Sinne: “[…] in social anthropology it refers to aspects of relationships between groups which consider themselves, and are regarded by others, as being culturally distinctive.” (Eriksen 1996: 28)

Der eingangs zitierte Richard Jenkins würde die Frage im Beitragstitel folgendermaßen beantworten: “My argument so far is that, if for no other reason, identification matters because it is the basic cognitive mechanism that human use to sort out themselves and their fellows, individually and collectively.” (Jenkins 2014: 14) Nun möchte ich die Frage aus dem ersten Absatz erneut umformulieren: „Wie lange würde es dauern, bis eine Person, die Sie gerade kennengelernt haben, Sie nach Ihrer ethnischen Identifikation fragt oder Sie für sich selbst kategorisiert?“ Ich selbst würde mich nicht primär mit meiner Ethnizität identifizieren, jedoch werde ich viel zu oft von meinen Gegenübern danach gefragt. Wie Thomas H. Eriksen (1996: 30) die Situation der Menschen, deren Aussehen sich von der Mehrheit unterscheidet oder die eine andere Muttersprache haben, treffend beschreibt: „[…] ethnic identity becomes an imperative status, an ascribed aspect of their personhood from which they cannot escape entirely.” Olga Boychenko (2022) stellt in ihrem Artikel für ‚Missy Magazine‘ anschaulich dar, wie dieses Phänomen ihre Selbstidentifikation beeinflusst hat: „Wenn ich […] die Ukraine als meinen Geburtsort nannte, kam die Reaktion: ‚Ah ja, aus dem Ostblock irgendwo. Das sieht man auch an deinem Gesicht.‘ Und so fing ich an, selbst der Einfachheit wegen vom ‚Ostblock‘ zu sprechen, wenn ich Geschichten und Anekdoten von meiner Familie erzählte.“ Unter der Berücksichtigung des Aspekts, dass die ethnische Identifikation von der äußeren Kategorisierung abhängt (vgl. Jenkins 2014: 13), möchte ich ethnische Identitätskonstrukte von Menschen erforschen, die selbst oder deren Eltern aus ‚ost‘-, ‚mittelost‘- und ‚südosteuropäischen‘ Ländern auswanderten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf ethnienübergreifenden Identitätskonstrukten. Für mein Forschungsprojekt werde ich Interviews in Deutschland und Tschechien durchführen, um die Rolle der Aufnahmegesellschaften, Kategorisierungen sowie Stereotypen über die obengenannten Herkunftsländer bei der Identitätskonstruktion besser nachvollziehen zu können. 

Schlussendlich lässt sich sagen, dass die ethnische Identifikation immer noch zählt – vor allem wenn sie erzwungen wird.


Quellen:

Eriksen, Thomas H. (1996): Ethnicity, Race, Class and Nation. In: John Hutchinson und Anthony D. Smith (Hg.): Ethnicity. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 28–31.

Boychenko, Olga (2022): Hä, was heißt denn Post-Ost? Missy Magazine. Online verfügbar unter https://missy-magazine.de/blog/2022/05/09/hae-post-ost/, zuletzt abgerufen am 31.03.2023

Brubaker, Rogers; Cooper, Frederick (2007): Jenseits der "Identität". In: Rogers Brubaker (Hg.): Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition, S. 46–95

Jenkins, Richard (2014): Social Identity. 4th Edition. London, New York: Routledge.

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