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#Kultur

Behelfsheim - Ein Fotobuch über Behelfsheimwerker und Reichseinheitstypen

Philipp Meuser, Fotograf, stART.up-Alumnus

„Es ist die Rohheit des Provisorischen, der Stolz der handwerklichen Selbstverwirklichung, die Heimeligkeit des erschaffenen Domizils, die den Betrachter anrührt. Es hat etwas Tröstliches und Verzweifeltes, was die letzten Häuschen ihrer Art ausstrahlen. Sie sind wie Treibgut, die sich einer die Stadt überrollenden Wachstumswelle vergeblich zu erwehren versuchen.“  (Peter Lindhorst über „Behelfsheim“)

Während und kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden im zerstörten Deutschland Hunderttausende von Behelfsheimen, auch inmitten von Kleingartenvereinen, da diese vom Bombardement der Alliierten weitgehend verschont geblieben waren. Konstruiert aus Trümmern oder einfachsten Baumaterialien haben die meisten dieser Häuser seit ihrer Entstehung eine stetige bauliche Veränderung erfahren, um sie strukturell oder räumlich aufzuwerten.

Die Zeit der Behelfsheime geht nun langsam dem Ende entgegen, da die Wohnform nicht länger geduldet wird: Wohnraum in der Stadt ist knapp, und Kleingärten bieten sich der Stadt als Nachverdichtungsflächen an. Zwar wurden die Erstbewohner/-innen und ihre Nachkommen mit einem lebenslangem Bleiberecht ausgestattet, nach deren Auszug oder Tod werden die Häuser jedoch meist abgerissen oder auf die Größe einer Kleingartenlaube zurückgebaut.

Diesem Phänomen haben wir, mein Freund und Kollege Enver Hirsch, und ich, Philipp Meuser, uns mittlerweile einige Jahre gewidmet. Angefangen hat das Projekt 2017 mit der Feststellung, dass Dokumentarfotografen/-innen häufig in die Ferne schweifen, um in fernen Ländern nach dem vermeintlich Exotischen, Neuen und Unbekannten zu suchen. Das ging auch uns bisher nicht anders. Envers letzte freie Arbeit war in Thailand entstanden, ich arbeitete gerade an meinem Abschluss „Neorurales“, in dem ich mich verlassenen und wiederbelebten Dörfern in Nordspanien gewidmet habe.

Aber ist es nicht auch möglich, die interessanten Themen einmal vor der eigenen Haustür zu suchen? Bei unser Recherche kamen Envers und meine Interessen in unserem Projekt „Behelfsheim“ zusammen: Envers Suche nach „absurden Spuren, die Menschen im Laufe ihres urbanen Lebens zurücklassen“, und mein Interesse an autonomem Wohnen, die Suche nach persönlicher Freiheit und unsere gemeinsame Liebe zum Provisorium.

Wir fragten 10 Hamburger Dokumentarfotografen/-innen, sich auf unterschiedliche Weisen der eigenen Stadt zu widmen. Das Gemeinschaftsprojekt „Sightseeing the Real“ untersuchte die Diskrepanz zwischen Hamburgs stadtplanerischen Entwürfen und den Bedürfnissen ihrer Bewohnern/-innen und wurde im Rahmen der (OFF)TRIENNALE 2018 im Kraftwerk Bille in Hamburg präsentiert.

Die Eröffnungsrede des Hamburger Kurators und Fotokritikers Peter Lindhorst können Sie hier nachlesen:

www.peterlindhorst.com/2018/07/12/fahrt-ins-raue/

Natürlich wurden Enver und ich oft gefragt, wer denn nun welches Foto gemacht hat, denn zu zweit könne man ja nicht mit einer Kamera fotografieren. Das stimmt nur bedingt, da dem Fotografieren eine Recherche vorausgeht, Entscheidungen technischer und ästhetischer Art getroffen werden, Motive bestimmt und die Bilder im Nachgang weiterverarbeitet und bearbeitet werden müssen, was gut gemeinsam oder in Arbeitsteilung funktioniert.

In unserem Fall konnte man aber darüber hinaus sehr gut zu zweit fotografieren: Wir haben uns für Aufnahmen mit einer Großformatkamera entschieden, Sie erinnern sich, diese großen klobigen Kästen, hinter denen sich der Fotograf unter einem schwarzen Tuch versteckt und im Zweifel etwas von Vögelchen in die Mattscheibe murmelt. Abgesehen davon, dass das Fotografieren mit einer Großbildkamera sehr umständlich, zeitintensiv und dafür auch noch teuer ist, gibt es die Möglichkeit, durch die Größe des abgebildeten Motivs und die vielfältigen Einstellungsmöglichkeiten gemeinsam an dem Bildaufbau und den technischen Parametern herumzutüfteln.

Prinzipiell haben wir die fotografischen Elemente der Arbeit in zwei Gruppen eingeteilt: Außenaufnahmen und Interieurs: Die Außenaufnahmen sind sachlich dokumentarisch, zeigen verschiedene Häusertypen, und ihnen ist die stetige Weiterentwicklung über die Jahrzehnte anzusehen. Es ist fast schon eine typisch deutsche Typologie, in Richtung Bernd und Hilla Becher, nur in Farbe und auch mal mit etwas dynamischeren Perspektiven und unterschiedlichen Lichtsituationen. Dennoch scheint es mehr um die Häuser, als um die Fotografie der Häuser zu gehen.

Dagegen stehen die Interieurs: Innenaufnahmen aus Häusern, die bereits leer geräumt sind und die kurz vor dem Abriss stehen oder standen. Ausschnitte, verschwimmende Ebenen, Details. Oft weiß man nicht, ob man nach oben, unten, an die Wand oder in, auf oder hinter einen Einbauschrank schaut. Die Bilder funktionieren eher assoziativ und geben einen Einblick in den Geschmack, aber auch die Bedingungen und technischen Fähigkeiten der Bewohner/-innen und der Zeit, in der die Häuser entstanden sind und weitergebaut wurden. Lineoleum trifft Auslegeware trifft Heißklebepistole trifft Gaffa Tape. Fast schon ein Querschnitt durch die Trends des deutschen Baumarktwesens der letzten 70 Jahre.

In der Kurzbeschreibung unseres Ankündigungstextes zum Buch heißt es: „Das Fotobuch Behelfsheim beschäftigt sich mit dem Innen und Außen dieser letzten existierenden Behelfsheime. Es verbindet künstlerisch-dokumentarische Fotografien mit historischen Grafiken, dem Protokoll einer surrealen Podiumsdiskussion und ordnet das Phänomen architekturgeschichtlich ein.“

Das Buch ist u.a. mithilfe einer Förderung im zweiten Förderjahr des stART.up-Förderprogramms entstanden, ohne die die Produktion nicht möglich gewesen wäre. Es sollte kein Behelfsheim-Lehrbuch werden, aber auch keine künstlerisch-elitäre Fotoarbeit, die nur von vermeintlichen Profis entschlüsselt werden kann. Unser Ziel war es, ein anspruchsvolles Fotobuch zu entwickeln, das jedoch möglichst allen Lesern/-innen die Möglichkeit bietet, die Codes zu entschlüsseln. So haben wir uns für weitere visuelle und inhaltliche Elemente entschieden, die die bis dahin reine Fotoarbeit ergänzen:

Aus der „Behelfsheim-Fibel“, einer Bauanleitung für Behelfsheime von 1943, haben wir uns Illustrationen entliehen. Sie zeigen, mit welchen Mitteln die Häuser in Selbsthilfe gebaut werden sollten (Löffel statt Mauerkelle, selbstgebaute Lehmstampfer…), wie die Häuser eingerichtet oder nach dem Krieg weiter genutzt werden können (bspw. als Garage oder Kleintierzucht). Die historischen Illustrationen sind auf grauem, dünnerem Papier gedruckt, um den Archivcharakter anzudeuten und sie vom Rest der Buchdramaturgie abzuheben.

Ungefähr in der Mitte des Buches ist eine fiktive Podiumsdiskussion der Hamburger Autoren/-innen Holger Fröhlich und Julia Lauter angelegt: „Die Möglichkeit, zu, äh, wohnen“. Eine Stadtplanerin streitet mit einem Behelfsheimbewohner und einem Architekten über die Zukunft des Behelfsheims. Moderiert von einer besonnenen Moderatorin, die selbst dann nicht aus der Ruhe gerät, wenn der Nationalsozialist Robert Ley – Namenspatron der „Ley-Hütten“, wie das Behelfsheim „Reichseinheitstyp 100“ auch genannt wird – aus dem Grabe aufsteht, um sichtlich betrunken das zu tun, was Nationalsozialisten eben tun: Zusammenhangsloses Wettern für die falschen und gegen die richtigen Sachen. Gut, dass das Behelfsheim selbst am Ende auch noch zu Wort kommt, um den Diskutierenden und der Leserschaft einmal aus erster Hand mitzuteilen, wie es selbst die Sache mit dem Abriss und dem fehlenden Denkmalschutz eigentlich sieht.

Der Text ist in die Mitte des Buches gesetzt, damit die Betrachter/-innen den zweiten (Bild-)Teil des Buches mit anderen Augen, mehr Hintergrundinformationen und einer anderen Stimmung erfahren können. Obgleich die Figuren und deren Rolle „leicht“ überzeichnet zu sein scheinen und die Satire schwer zu übersehen ist, haben doch viele historische Fakten und reale Zitate Leys in dem Text ihren Platz gefunden.

Eine wissenschaftliche, architekturhistorische Einordnung schafft schlussendlich der Text „Vom Behelf zum Heim“ des Berliner Architekten Jan Engelke, bald Dr. Jan Engelke, wenn er seine Dissertation zum deutschen Eigenheim abgeschlossen hat. Der Text erklärt die Entstehung der Behelfsheime, politisiert den Grund und Boden und schlägt einen Bogen zu Martin Wagners Idee des „wachsenden Hauses“ vom Beginn der 1930er Jahre: Ein Konzept, in dem ein Haus als kleine Grundzelle konstruiert wird und je nach finanziellen Möglichkeiten und familiärer Situation der Bewohner/-innen weitere Teile angebaut werden können. Also genau das, was mit den Behelfsheimen passiert ist. Und genau das, was die Nationalsozialisten 1943 als „wirklichkeitsfremde Spielerei“ abgetan haben, denn laut ihnen wird „das Behelfsheim niemals ein Wohnungsbau friedensmäßiger Art – diese engen, niedrigen Räume (…) ergeben durch Zusammenlegung oder Anbau niemals eine echte Wohnung“ (Deutsches Wohnungshilfswerk, 1943). Wie schön, dass es anders kam, und wie schade, dass diese Wohnform nun mehr und mehr bedroht ist.

 


Das Buch erscheint im Selbstverlag und kann für 35,00 € unter www.behelfsheim.com und bisher in folgenden Buchhandlungen gekauft werden:

Hamburg:

Buchhandlung im Haus der Fotografie, Buchhandlung Lüders, Cohen und Dobernigg, Freilichmuseum Kiekeberg, Gudberg Nerger, Hanseplatte

Berlin:

bildband.berlin, Bücherbogen, c/o berlin, , doyoureadme, Kominek, pro qm

 

Behelfsheim, 2020

Enver Hirsch und Philipp Meuser

Foliengeprägtes Leinen-Flexcover, fadengeheftet, 21 x 25,5 cm, 148 Seiten, 3 Ausklappseiten, 51 Farbabblidungen, 53 historische Illustrationen, Texte von Holger Fröhlich, Julia Lauter & Jan Engelke (Englisch/Deutsch)

Erste Auflage, 500 Exemplare

ISBN 978-3-00-065630-9

Preis: 35,00 €


Zu unserer Ausstellung laden wir Sie herzlich ein:

Behelfsheim
. Enver Hirsch und Philipp Meuser

Vernissage & Booklaunch:

19. September 2020 / 14 - 21 Uhr

Ausstellungsdauer: 19.9.2020 – 17.12.2020

Mit einem Hörstück von burgund t brandt (Text: Holger Fröhlich & Julia Lauter) und einer Rauminstallation von Marc Einsiedel & Felix Jung

Freelens Galerie

Alter Steinweg 15

20459 Hamburg

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