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#Kultur

世外桃源 - THE PEACH SPRING BEYOND THIS WORLD

Bettina Freimann, Kuratorin, Galerie Âme Nue

Die Fabel vom Pfirsichblütenhain, verfasst von dem chinesischen Gelehrten und Dichter Tao Yuanming im Jahr 421, beschreibt die Geschichte eines Fischers, der vom Weg abkommt, um schließlich durch Zufall eine Landschaft mit blühenden Pfirsichbäumen, fruchtbaren Feldern und Bambuswäldern zu finden, in der Jung und Alt in Harmonie zusammenleben.

Als Sinnbild eines naturschönen Sehnsuchtsortes, an dem die Menschen seit Jahrhunderten abgeschottet von den weltlichen Geschehnissen des damaligen Kaiserreichs und in absoluter Harmonie mit der Umwelt leben, markiert die Erzählung das erste Narrativ des chinesischen Utopie-Begriffs. Der Rückzug aus der Welt – ein Leben in Authentizität und Natürlichkeit (benzhen 本真) sowie anstrengungsloser Aktion (wuwei 无谓) – war zu damaliger Zeit sehr populär in den Kreisen taoistischer Gelehrter, die sich von den strengen Reglementierungen der konfuzianischen Beamtenprüfungen zurückgezogen hatten. Der Pfirsichblütenhain wurde zur idealen Vorstellung eines harmonischen Sehnsuchtsortes und ein Leitmotiv in der chinesischen Landschaftsmalerei, dem shanshui hua 山水画。

Doch was ist heute geblieben von der traditionellen Symbolik des Pfirsichblütenhains und der tiefverwurzelten Liebe zur Natur im ultramodernen China? Wie und wo können Ideen von Utopie heute gelebt werden – in einer Zeit, in der das öffentliche und private Leben strengen Regelungen unterworfen und soziale Interaktionen hauptsächlich online möglich sind? 

In der Online-Ausstellung von „The Peach Spring Beyond This World“ 世外桃源 (www.peachblossomspring.art), kuratiert von Liberty Adrien und Bettina Freimann, gehen die chinesischen Künstler:innen Ye Funa und aaajiao in interaktiven Online-Werken der Frage auf den Grund, inwieweit die virtuelle Welt ein sicherer Raum für die neue Generation, ein Refugium für Meditation und Entspannung und ein Schutzraum sein kann, in der neue Modelle von Gemeinschaft erlebt werden. 
Beide Kunstwerke sind als Reaktion auf die internationale Corona-Krise entstanden und möchten Ruhe und Frieden stiften, unterhalten, aber auch nach einem Sinn in der derzeitigen Situation suchen. 

In der Eingangsszene wird der:die Spieler:in in eine natürlich anmutende Landschaft entführt, die Elemente aus traditioneller, aber auch aus Populär- und Digitalkultur enthält. Rosablühende Bäume, Pagoden und Brücken, eine sich endlos spiegelnde Wasseroberfläche, eine im Wasser versinkende Guan Yin (die Göttin der Gnade und Barmherzigkeit) ziehen in den Bann und führen auf die nächste Seite, auf der die beiden Werke präsentiert werden. 

In aaajiaos Metagame „Deep Simulator“, ein Verweis auf grenzübergreifende User Experience, sucht der:die Wander:in nach einem Ausweg aus dem Bardo – einem mentalen Zwischenzustand, der, inspiriert vom tibetischen Buddhismus, in der Meditation oder zwischen Tod und Wiedergeburt erlebt wird. Als einzige Orientierungspunkte auf der Suche nach einem Ausweg dienen lose arrangierte Objekte, 3D-Bäume und -Pflanzen, Pilze und Steine, Emojis und GIFs – alles Verweise auf frühere Arbeiten des Künstlers und auf die Naturverbundenheit der chinesischen Utopie-Vorstellung. Einen philosophischen Dialog mit einer virtuellen Entität führend, navigiert sich der:die Wanderer:in durch die sechs Bardos, die sich in sechs Szenen manifestieren, und begegnet sechs magischen Objekten, die zu temporären Assistenten werden. Der Prozess des Versuchs, diese verwirrende Situation zu verlassen, wird zum Spiel selbst.

Auch in Ye Funas interaktivem Frage-und-Antwort-Spiel „Dr. Corona Online“ sind Orientierungslosigkeit und existenzielle Fragestellungen vorherrschend. Die Befragung von „Dr. Corona“ – einer Künstlichen Intelligenz – führt zu zufälligen und absurd wirkenden Antworten, die aus Internetschlagzeilen, Social Media-Tweets und „Chicken Soup Quotes“ stammen. Das Kunstwerk ist inspiriert von der Kolumne „Dr. Co Mailbox“, die Teil der in China weit verbreiteten Zeitschrift The Family Doctor ist. Jede Woche antwortet eine virtuelle Figur, hinter der ein Kollektiv aus berühmten Ärzt:innen und Professor:innen steht, auf eingesendete, teils groteske Gesundheitsfragen. Die Künstliche Intelligenz in „Dr. Corona Online“ ahmt die Beantwortung dieser Fragen durch teils absurd und zufällig wirkende Antworten nach. Um eine zweite Meinung einzuholen, kann der:die Patient:in das Rezept speichern und in den Sozialen Medien teilen. 

Der Prozess des Navigierens durch diese utopischen Welten ist eines der Hauptaugenmerke der beiden interaktiven Arbeiten. Gleich der Suche des Fischers in Tao Yuanmings Fabel, erforscht die Ausstellung die Prozesshaftigkeit des chinesischen Utopie-Konzepts – die immerwährende Suche nach dem gelobten Land, in dem die Zeit stillsteht. Zurück in der realen Welt bleiben dem:der User:in ein Gefühl von Verstörung und Faszination und die offene Frage, ob die Suche nach Glück und der Prozess des Findens von Utopie an sich schon einer Utopie gleichkommen. 

„The Peach Spring Beyond This World“ wurde realisiert mit der Unterstützung der Behörde für Kultur und Medien Hamburg, der Claussen-Simon-Stiftung und dem Kunstfonds NEUSTART KULTUR. 


peachblossomspring.art

Online-Ausstellung von Âme Nue
Mit Werken von aaajiao und Ye Funa
25. Februar 2021 – 31. Januar 2022
Kuratiert von Liberty Adrien und Bettina Freimann

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