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#Kultur #waszählt!

„Das Lied kann ja nichts dafür …“ - Recherche zu einem kritischen Liederabend

Marie Sophie Richter und Jannis Wichmann, stART.up-Stipendiat:innen

Gefördert durch den „Was zählt!“-Fonds für Kunstschaffende der Claussen-Simon Stiftung, konzipieren wir, die Sopranistin Marie Sophie Richter und der Konzertgitarrist Jannis Wichmann, einen „kritischen Liederabend“. Was heißt das?

Im November 2019 erlebten wir zum ersten Mal einen gemeinsamen Moment des Unbehagens, als wir einige Lieder aus Manuel de Fallas „Siete canciones populares“ anlässlich einer Preisverleihung vortrugen. Der Text des Eröffnungsstücks des beliebten Zyklus' gab uns dabei den entscheidenden Impuls für das Bedürfnis nach einer weiteren Auseinandersetzung:

Al paño fino, en la tienda,
una mancha le cayó.
Por menos precio se vende,
porque perdió su valor.
¡Ay!

(Auf das feine Tuch im Laden,
fiel ein Fleck.
Es wird für weniger verkauft,
weil es seinen Wert verloren hat.
Ay!)

Ganz offensichtlich bezieht sich der Text auf das Thema Jungfräulichkeit und trägt mit seiner Be- und Abwertung von Frauen eine Misogynie in die Öffentlichkeit, die wir nicht teilen. In unserer Tätigkeit als Interpret:innen stehen wir immer wieder vor der Herausforderung, Musik aufzuführen, mit deren Inhalten wir uns nicht identifizieren können und wollen. Möglicherweise tragen wir mit solchen Werken auch dazu bei, Diskriminierungen und problematische Inhalte zu reproduzieren und fortzuschreiben.

Unsere Absicht ist es, mit einem besonderen Liederabend einen künstlerischen Raum zu ermöglichen, der durch Brüche, Gegenüberstellungen, Neuinterpretation und Neuvertonungen eine Auseinandersetzung mit den Inhalten initiiert und diverse Perspektiven wiedergibt. Ohne „Cancel Culture“ wollen wir an problematischen Werken festhalten – aber in eine lebendige, künstlerische Diskussion gehen, in der Inhalte entlarvt und nicht entfernt werden.

Während der Recherche wurde deutlich, dass wir – einmal an der Oberfläche der Problematik gekratzt – schnell zahlreiche weitere Fälle benennen konnten. Zentral im Repertoire für Gesang und Gitarre ist beispielsweise John Dowland (1563-1626), dessen Texte zu einem großen Teil sexistische, frauenverachtende und übergriffige Passagen enthalten. Exemplarisch dafür wählten wir Dowlands „Think'st thou then by thy feigning“ aus. Kurz zusammengefasst beschreibt dieses Lied eine Situation, in der sich eine Frau schlafend stellt, um zu zeigen, dass sie keinen intimen körperlichen Kontakt mit dem Protagonisten haben möchte. Dieser erklärt jedoch, dass diese Ablehnung den Kontakt noch wünschenswerter macht, und wirft ihr vor, dass ihr Verhalten grausam und ungerechtfertigt sei. Zum Ende des Liedes rechtfertigt der Protagonist sein Denken und mutmaßlich folgendes Handeln damit, dass Küsse „kühn“ sein dürften und die verlockende schlafende Frau dem waffenlos ausgeliefert sei. Die Musik von John Dowland dazu ist relativ schlicht, beschwingt und eher lebhaft als melancholisch.

Um eine Kongruenz zwischen Text und Musik herzustellen, beauftragten wir die amerikanische Komponistin Kimberley Osberg, den Text neu zu vertonen und dabei die Perspektive der betroffenen Frau in den Mittelpunkt der Musik zu stellen. In ihrer Neufassung erschafft die Musik eine bedrohliche Atmosphäre, in der das Unwohlsein der Frau im Mittelpunkt steht. Beide Werke, das Original Dowlands und die Neuvertonung Osbergs, sollen nacheinander vorgetragen werden, in der Erwartung, dass die Gegenüberstellung den Zuhörer:innen eine eigene Auseinandersetzung ermöglicht und den Fokus auf den Text lenkt.

In dem bisher angedachten Programm werden auch andere Lieder Dowlands zu hören sein, z.B. „Can she excuse my wrongs“. Der Text dieses Lieds ist nicht weniger problematisch. Die Musik eignet sich allerdings für uns dazu, auf interpretatorische Weise Übergriffigkeit und Frauenverachtung darzustellen. Das Ergebnis wird dabei sicherlich weit von jeder historischen Aufführungspraxis entfernt sein, dafür aber sehr dicht am Text.

Einen anderen Weg gehen wir, indem wir weitere Lieder Dowlands mit Werken von Komponistinnen kontrastieren und damit einen weiblichen Blickwinkel auf die gleiche Thematik präsentieren. Liebeslieder Francesca Caccinis (1587-1640) – italienische Vertreterin derselben Epoche – aber auch beispielsweise die "“Five Love Songs“ der zeitgenössischen Komponistin Thea Musgrave (*1928) zu englischen Texten aus der Zeit Dowlands unterscheiden sich deutlich in ihrer Thematisierung von Geschlecht, Liebe und Rollenverständnissen.

Ein weiterer Programmpunkt wird das Klavierlied „Possession“ der feministischen Komponistin Ethel Smyth (1858 - 1944) sein, das Jannis Wichmann transkribiert und für Gitarre bearbeitet hat. Inhaltlich steht es im starken Gegensatz zu den besitzergreifenden Texten Dowlands, indem es die Freiheit des geliebten Gegenübers betont. In der abschließenden Strophe heißt es:

„Go out when thou wilt, O friend; --
Sing thy song, roam the world glad and free;
By the holding I lose; by the giving I gain,
And the gods cannot take thee from me;
For a song and a scent on the wind
Shall drift in through the doorway from thee.“

Wir werden noch einige Zeit das weitere Programm erarbeiten und schließlich proben. Wie auch immer der „kritische Liederabend“ am Ende genau gestaltet sein wird, wir versprechen uns und dem Publikum im zweiten Halbjahr 2021 einen diskussionswürdigen, kontrastreichen und anregenden Musikgenuss – bei dem hoffentlich auch der eine oder andere Kopf geschüttelt werden wird.

Quellen und Links:

Die Musikerin und Musikwissenschaftlerin Katarina A. Karlsson hat für ihr Ensemble einen ähnlichen Ansatz verfolgt und berichtet über ihre Forschungen und ihre Arbeit dazu in ihrer Publikation "The ‘Essentially’ Feminine. A Mapping through Artistic Practice of the Feminine Territory Offered by Early Modern Music".

Ein Beitrag zu unserer Auftragskomposition bei Kimberley Osberg ist auf ihrem Blog erschienen, er beschreibt sehr ausführlich ihre Kompositionstechniken und das Ergebnis.

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