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#Kultur #waszählt!

House of Ayster – Episode I: Labyrinth

Jari Niesner, stART.up-Stipendiat

Nur keine weiteren Bohrungen,
doch kein Grundwasser,
die Brunnen dunkel,
die Stile erschöpft –

Die Zeit hat etwas Stilles bekommen,
die Stunde atmet,
über einem Krug,
es ist spät [...]

Gottfried Benn, Stilleben


Vom 8. bis 17. Januar 2021 wird in der Frappant Galerie in Altona meine erste Ausstellung zu sehen sein. Sie wird durch den „Was zählt!“-Fonds für Kunstschaffende der Claussen-Simon-Stiftung gefördert – und kann jeweils nur von einer Person betreten werden, denn – es handelt sich dabei um ein begehbares Labyrinth.

Seit der Pandemie beschäftigt mich die antike griechische Sage um den Minotauros. Sie beginnt mit der Verweigerung eines Stieropfers an Poseidon, welcher dem König Minos den Thron gegeben hat, behandelt die jährliche Opfergabe von sieben Knaben und sieben Mädchen aus Athen an das blutdürstige Monster und endet mit dessen Tod durch das Schwert des attischen Prinzen Theseus. Durch die Verweigerung eines Opfers muss also ein anderes gebracht werden. Wird der Kontakt zum Übernatürlichen, Anderweltlichen an entscheidender Stelle unterbrochen oder missachtet, so entsteht ein Bruch, der später Wiedergutmachung verlangt. Der Begriff „Opfer“ meint dabei die Darbringung von materiellen Objekten, von Dingen aus der Welt, um eine andere Welt zu erreichen. Diese Handlung ist also ein Akt der Transzendenz – kulturhistorisch sind Opferungen mit einem stilisierten Handlungsablauf verbunden, es handelt sich um stark ritualisierte Akte, die ihren Ursprung im kultisch-religiösen Bereich haben. Ihre Funktion ist die Speisung des Idols, an der man manchmal auch selbst teilnimmt. Die Entäußerung des materiellen Gegenstands kommt einem Loslassen gleich: Auch die Himmelswelt fordert ihren Tribut, nicht allein das Fest der Lebenden. Eine Opfergabe hat daher mit Demut zu tun, sie reduziert und fügt gleichzeitig hinzu. Das Fehlen des in einer höheren Notwendigkeit begründeten Festes aber gebiert Ungeheuer.

Eine Tatsache, die mich als Kulturschaffender auch ganz direkt und persönlich betrifft, ist, dass im Moment Veranstaltungen kultureller und gemeinschaftlicher Art untersagt bzw. stark eingeschränkt sind. Das hat in den vergangenen Monaten und Tagen zu Protesten und öffentlichem Widerspruch geführt. Einige haben die Befürchtung, dass die verordneten Maßnahmen gegen die Pandemie auch den politischen Machthunger schürt und den Regierungen beweist, dass mit Angst nach wie vor gut zu regieren ist. Einmal abgesehen von der nicht abzusprechenden Vernünftigkeit der Vorsicht, müssen wir spätestens jetzt intensiv darüber nachdenken, welche Folgen anhaltende Maskenpflicht und erhebliche Einschränkung des öffentlichen Lebens auf die Psyche des Menschen haben können. Dies kann und wird auch dauerhafte Konsequenzen nach sich ziehen. Berichten zufolge stieg die Cyber-Kriminalität während des Lockdowns in signifikantem Maße. Das Monster ist also durchaus real...

In meiner künstlerischen Arbeit interessieren mich die mythologisch-archaischen und damit ursprünglichen Kräfte, die Menschen antreiben. In unserer Zeit hat sich das Interesse an griechischer Mythologie auf den Stoff für Videospiele verlagert. Dennoch kann sie auch heute noch herangezogen werden, um Vergleiche zu ziehen, Erklärungen und Beschreibungen zu finden, wenn man selbst nach Worten und Geschichten sucht, die die aktuelle Lage begreifbarer machen können. Einige der bedeutendsten modernen Künstler haben sich ebenfalls mit dem Minotauros auseinandergesetzt: Borges, Gide, Picasso. Das Labyrinth taucht außerdem metaphorisch in M.C. Eschers Lithografie „Relativität“ aus dem Jahr 1953 auf. Die Zirkularität des Labyrinths zeigt sich hierin sehr deutlich als ein wesentlicher Aspekt: Hin- und Rückweg sind ein und derselbe. Ursprünglich das vom Erfinder Dädalus entwickelte Gefängnis, welches den Minotauros versteckt halten sollte, tauchen kreuzungsfreie Pfade aber auch in nicht-europäischen Kulturen auf, die im religiösen Kontext aller Wahrscheinlichkeit nach im Bereich der Geisteraustreibung zu verorten sind. In mittelalterlichen Kathedralen und Kirchen hat man diese heidnische Praxis christlich assimiliert – das Labyrinth wird hier zu einer Reise ins eigene Ich, der reinigende Kräfte zugesagt werden. Im Zuge des europäischen Ehrgeizes in der Gartenbaukultur hat sich das Labyrinth schließlich zu zahlreichen Irrgärten im barocken Stil entwickelt (z.B. Altjeßnitz). Und heute hat sich ein virtuelles, schier unerschöpfliches Labyrinth ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt: Das Internet.

Das Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Labyrinth stellt die erste Installation von insgesamt drei geplanten Episoden dar. Die Episode hat sich zur gängigen Form der modernen Präsentation entwickelt: Das Leben gleicht einer Fernsehshow – Szenen der Rage folgen Szenen der Ekstase: Auf Channels, Blogs, in Live-Streams, Podcasts und Mini-Serien lässt sich die eigene Existenz dokumentieren. Es sind gequantelte Fragmente der Aufmerksamkeit, die Anekdotenhaftigkeit der Zeit bestätigend, indem schmerzlich Unwiederholbares in immer neu-gefassten Höhepunkten dem auflösenden Vergessen nachjagt. Der Titel meiner Ausstellung, „House of Ayster“, ist ein Portemanteauwort aus Asterion und Oyster (inklusive Anspielung auf Jorge Luis Borges' Kurzgeschichte „Haus des Asterion“). Es geht mir in dieser Arbeit darum, mich mit verschiedenen Möglichkeiten des Erkennens auseinanderzusetzen. Die Natur, das soziale Geflecht, das Internet sind Labyrinthe, in denen man sich gern verirrt. Das Labyrinth ähnelt der Gebärmutter oder den Furchen der Hirnrinde, die das Unbewusste, das Unbekannte beherbergen – die Botenstoffströme, die an unserem Verstand ständig vorbeigehen und unergründlich bleiben. Die Pfade, die sich verzweigen, führen vom Außen ins Innere und vom Inneren ins Außen. Der Stern ist unsere Auster, strahlenförmig umrandet von Nichts. Setzen wir den Nihilismus für die Erbauung? Vermischung, Auflösung, Paradoxa – Erbauungen des Sein und des Nichts?

Die Nacktheit der realen Begegnung ist gefährlich, ebenso wie die Erkenntnis Gefahren birgt. Darum tragen wir die Geheimnisse und Minotauren seit jeher mit uns herum – vermutlich ein Leben lang, solange es die Menschheit gibt. Wir suchen als Voyeure nach der Wahrheit, wir suchen nach der Vision. Doch das Bild ist eine Repräsentation des Unrepräsentierbaren: Was wir eigentlich suchen, ist das Erlebnis, das sich jeder Repräsentation entzieht. Immer besteht aber auch die Gefahr, das Unkommunizierbare zu verlieren, und vom schwarzem Grund des Vergessens rührt der Wunsch nach Weitergabe und Ewigkeit. Der Grund leuchtet vom Wunsch der Verbindung, die Auflösung ist; vom Leben, das Tod ist; vom Anderen, der Ich ist. Die Geheimnisse, die wir mit uns herumtragen, die wir aber nicht mitzuteilen im Stande sind, sie verlagern sich in immer neue Räume – sei es Gott, die Kunst oder der virtuelle Raum des Internets. Sie wollen gelebt werden. Im Zentrum des Labyrinths aber findet der Austausch zwischen Menschen statt, konkret und anonym. Hier liest Du von Secrets You'd Never Tell Anyone But Which Still Need to Come Out ---

Darum geht es in „House of Ayster“.

Verfasst im September 2020

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