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Zum Potenzial eines von Stipendiat:innen gestalteten Lernraums – eine Reflexion des Horizonte-Tutoriums

Liesa Rühlmann, Alumna bei Dissertation Plus und ehemalige Tutorin bei Horizonte

Von 2017 bis 2020 war ich Tutorin im Horizonte-Programm. Das gemeinsame Förderprogramm der Claussen-Simon-Stiftung, der Jürgen Sengpiel Stiftung und der Dürr-Stiftung richtet sich an Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund, die an der Universität Hamburg studieren. Die Stipendiat:innen erhalten ein zweijähriges Stipendium, das neben der finanziellen Unterstützung Seminare, Workshops, Coachings und monatliche Tutorien beinhaltet und praxisrelevante Inhalte für die künftige pädagogische Arbeit fokussiert. 

An dieser Stelle möchte ich auf mein Erleben der drei Jahre als Tutorin zurückblicken und dabei insbesondere auf die monatlich stattfindenden Tutorien eingehen. Sie bildeten ein Kernelement meiner Tätigkeit als Tutorin. Das Tutorium gilt dem fachlichen und persönlichen Austausch und wird inhaltlich in Absprache zwischen den Stipendiat:innen und der Tutor:in gestaltet.

Doch vorab einige Gedanken und Erläuterungen zur gesellschaftlichen Wirksamkeit des Migrationshintergrunds und zu meiner Positionierung als Person ohne (zugeschriebenen) Migrationshintergrund.

Der Begriff des Migrationshintergrundes wird seit Einführung und Etablierung um die 2000er Jahre in der Regel nicht nur in statistischen Erhebungen sichtbar, sondern entfaltet seine Wirksamkeit v.a. diskursiv, d.h. er tritt häufig in Zuschreibungen auf. Der ehemalige Horizonte-Stipendiat Anh-Quoc Doan geht in seinem Blogeintrag „Woher kommst du?“ darauf ein, dass vielen Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, in Deutschland des Öfteren die Frage gestellt wird, woher sie kommen. Er macht deutlich, dass es sich hierbei häufig weniger um Interesse und vielmehr um eine Markierung als „nicht-deutsch“, als „anders“ handelt. Die Frage ist eine, die nicht in erster Linie Menschen mit Migrationshintergrund begegnet, sondern Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Diese Ausführungen sind an dieser Stelle wichtig, da ich weder einen Migrationshintergrund habe noch von Zuschreibungen als Person mit Migrationshintergrund betroffen bin. Ich bin somit nicht von Othering, der Konstruktion und Markierung als „Andere“ in Abweichung von einem konstruierten Normenverständnis, betroffen. Meine Positionierung war im Rahmen der Förderung insofern relevant, da sich die Erfahrungen der Stipendiat:innen und meine Erfahrungen also in Hinblick auf die Ausrichtung des Horizonte-Förderprogramms unterscheiden; dies weist in meiner Tätigkeit als Tutorin auf eine Machtasymmetrie, die es für mich von Anfang an zu reflektieren und bedenken galt. Diese meine Positionierung unterstrich für mich daher die Relevanz der (Mit-)Bestimmung der Inhalte durch die Stipendiat:innen.

Welches große Potenzial birgt nun die Möglichkeit der Stipendiat:innen, die Inhalte und Themen der Tutorien mitzugestalten?

Das Tutorium fand monatlich statt, und wir trafen uns für jeweils rund zwei Stunden. Die Inhalte orientierten sich dabei sowohl an einem fachlichen als auch persönlichen Austausch. In der Gruppe diskutierten wir die Themen, mit denen wir uns beschäftigen wollten. In der Regel tauschten wir uns zu Beginn des jeweiligen Förderjahres über unsere Tätigkeiten, Engagements und Netzwerke aus. Daraus ergaben sich bereits zahlreiche spannende Ansätze, mit denen wir in die Planung einsteigen konnten.

Dabei haben wir sowohl Inputs der Stipendiat:innen als auch Vorträge von eingeladenen externen Personen erlebt. Auf Stipendiat:innenseite stellte beispielsweise Mirjeta Elezi ihre Masterarbeit zum Thema „Lehrerprofessionalisierung durch Horizonte“ vor, Cassandra Linne berichtete von ihrer Arbeit auf der Neonatologie-Station eines Hamburger Krankenhauses, Anna Lubiser hielt einen Vortrag zur Montessori-Pädagogik, und Marisa Schneegans ging auf das Thema „Abschiebungen im Kontext einer diskriminierungskritischen Schule“ ein. Daraus ergaben sich stets vielschichtige Diskussionen und ein reger Erfahrungsaustausch.

Außerdem hatten wir zahlreiche spannende Gäste, die von ihrer Arbeit berichteten: Zum Beispiel Wolfgang Rosenkötter, der uns den Film „Freistatt“ zeigte und mit uns diskutierte. In dem Film werden seine schlimmen Erfahrungen in einem sogenannten ‚Erziehungsheim‘ in den 1960er Jahren thematisiert. Moritz Brandt stellte SchlauFox e.V. vor, einen Verein, der insbesondere sozioökonomisch benachteiligte Kinder und Jugendliche auf den verschiedenen Ebenen ihres schulischen und außerschulischen Bildungsweges begleitet. Antonia Schallehn, stellvertretende Schulleiterin und Lehrerin der JVA Hahnöfersand, berichtete von ihrer Arbeit in der Schule in der Haftanstalt.

Wir besuchten aber auch verschiedene Institutionen und Initiativen: So haben wir unter anderem die Einrichtung des KIDS (basis & woge e.V.) kennengelernt, wo uns der Sozialarbeiter Malte Block von der Arbeit in der Anlaufstelle für Jugendliche in schwierigen Lebenslagen berichtete. All diese sehr unterschiedlichen Zugänge und Themen waren für die Stipendiat:innen und mich sehr spannend und machten deutlich, welche diversen Aspekte und Lebenssituationen im Schulalltag und als Lehrperson relevant sind. Viele der Stipendiat:innen berichteten, dass diese Aspekte in ihrem Studium wenig Berücksichtigung finden. Diese auf die zukünftige Tätigkeit als Lehrkraft zu beziehen, stellte dabei eine besondere und wichtige Reflexionsebene dar, an welcher sich die Stipendiat:innen engagiert und interessiert beteiligten.

Ein häufiger Wunsch seitens der Stipendiat:innen war die Thematisierung von Rassismus. So gestaltete die Stipendiatin Linda Tendai Sichone einen Input zum Thema „Rassismus und Sprache“, und Mehria Sedik organisierte einen Workshop von Eliza-Maimouna Sarr von amira (basis & woge e.V.) zum Thema Rassismuskritik. Beide machten deutlich, welche Relevanz Rassismus gesellschaftlich und im schulischen Kontext spielt. Dennoch ist die Thematisierung von Rassismuskritik sowohl im schulischen als auch im universitären Raum bisher eher marginal vertreten. Dass das Tutorium diese wichtige Reflexion auch durch die Mitwirkung der Stipendiat:innen ermöglichen kann, stellt daher einen wichtigen Austauschraum dar , der sich in der sonstigen akademischen Ausbildung kaum bietet. Dies macht auch deutlich, dass rassismusreflexive Themen mehr Einzug in die universitäre (Lehramts-)Bildung bekommen müssen. Weil Rassismus alltagsstrukturierend ist, ist es für ein rassismuskritisches Agieren notwendig, dass zukünftige Lehrkräfte diese Zugänge erhalten, um sich und ihr Handeln zu reflektieren. Das Horizonte-Tutorium kann dies ermöglichen.

Neben all diesen bereichernden und bedeutsamen Inputs und Austauschmöglichkeiten prägten für mich die vielen gruppenstärkenden Momente die Zeit als Tutorin. Besonders schön war unter anderem eine Einheit zu Kooperationsspielen, durchgeführt vom Stipendiaten Daniel Welsch und seiner Kommilitonin Berenike Charlotte Kesten, sowie die Beschäftigung mit den Möglichkeiten des Improvisationstheaters gemeinsam mit Matti Lange und Guido Boyke. Diese Treffen ermöglichten es nicht nur, dass wir uns besser kennenlernten, sondern boten auch großes fachdidaktisches Potenzial für den Beruf als zukünftige Lehrperson.

Auch der im Jahr 2020 coronabedingt hauptsächlich digital stattfindende Austausch war gut möglich. Einen schönen Ausklang der drei Jahre meiner Tutor:innentätigkeit bot das Treffen im September 2020 mit einem Online-Escape-Spiel. Im Oktober hatten wir noch einmal das Glück, uns beim Aus- und Rückblick des Programms persönlich zu sehen: Wir verabschiedeten die ausscheidenden und begrüßten die neuen Stipendiat:innen, und auch ich wurde als Tutorin verabschiedet und gab den Staffelstab an Aybike Savaç – selbst ehemalige Horizonte-Geförderte und damit mit dem Horizonte-Programm bestens vertraut.

Ich bin sehr froh und dankbar, als Tutorin Teil von Horizonte gewesen zu sein. Es war bereichernd für mich, die Stipendiat:innen und ihre Perspektiven kennenzulernen. Die Tätigkeit bot mir viele selbstreflexive Momente, die ich für meine berufliche und private Entwicklung als sehr bedeutsam einordne. Ich bin sicher, dass die Horizonte-Stipendiat:innen in ihrer pädagogischen Praxis motivierende, reflektierte und engagierte Lehrkräfte sein werden. Es war eine schöne Zeit mit euch!

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