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#Auslandsaufenthalt #Bildung #Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation

Beziehungsweise forschen: Einblicke in meine ethnografische Feldforschung im rumänischen Jiu-Tal

Hannah Bartels, Stipendiatin im Programm Dissertation Plus

Juli 2021, übersetzter WhatsApp-Chat zwischen Hannah (H) und Anca (A):
H: Hellohello! Wie geht’s, was treibst du? Ich bin im Tal angekommen, ich wohne jetzt in Vulcan 😊 Vielleicht sehen wir uns bald mal? Wir könnten uns auch auf eine Limo treffen! ~ Hannah
A: Jaaaa
Ich freue mich sehr
Mir geht’s sehr gut, ich freue mich, dass du da bist
H: 🎉🎉🎉
A: 🤗🤗

Von Juli bis Dezember 2021 führte ich einen Teil meiner ethnografischen Feldforschung zur Fragestellung „Wie machen junge Erwachsene Pläne für die Zukunft?“ im Jiu-Tal im Südwesten Rumäniens durch. Die Forschung ist Teil meiner Promotion im Fach Ethnologie an der Universität Hamburg. In diesem Blogbeitrag werde ich weder konkrete Ergebnisse präsentieren noch klassisch über meine Reise berichten. Stattdessen schildere ich vier Begegnungen im Jiu-Tal und möchte so durch die Linse „Beziehung“ einen Einblick in meine Forschungszeit geben. Denn Beziehungen sind für mich als Forscherin ein zentraler Teil meiner Arbeit: Durch teils sehr langfristige Beziehungen lerne ich meine Gesprächs- und Forschungspartner:innen intensiv kennen, ihre Lebensrealität und ihre Perspektive auf diese. Was ist ihnen wichtig? Was beschäftigt sie? Wie interagieren sie mit anderen und mit mir?
Meine Feldforschung begann bereits im September 2020, pandemiebedingt remote und online. Dann folgten ab Juli 2021 fünf Monate Präsenzforschung, vor Ort im Jiu-Tal. Das Tal in den Südkarpaten ist eine Sackgasse: zum einen wortwörtlich, da die betonierte Straße irgendwann in den Bergen endet, zum anderen, weil die Region mittlerweile begrenzte Möglichkeiten für ihre Bewohner:innen bietet. Wo vormals 14 Kohleminen monoindustriell Arbeit und Lohn für die gesamte Region boten, sind heute nur noch vier aktiv, und auch diese werden bald schließen. In den letzten zwanzig Jahren ist mindestens ein Drittel aller Bewohner:innen weggezogen, die Region hat in Rumänien traurige Berühmtheit erlangt durch zunehmende Armut und hohe Arbeitslosigkeit. Hinzu kommen abnehmende Sozial-, Kultur- und Infrastrukturen, zum Beispiel in der Versorgung von Alten, bei Bildungs- und Freizeitangeboten; Gebäude, Parks und Bahnverbindungen verfallen. Viele sagen, dass das Jiu-Tal keine Zukunft habe. Wie schmieden junge Erwachsene in diesem Umfeld Pläne für die Zukunft, die es hier vermeintlich gar nicht gibt? Um das herauszufinden, lernte ich einige von ihnen kennen.[1]


Sich gut riechen können

„Ich habe mal gehört, dass es ein queeres Pheromon gibt, dass sich queere Leute riechen und sich dann vertrauen können!“, sagt Alex, zieht an ihrer Selbstgedrehten und blinzelt in die Sonne. Es ist Ende Oktober 2021, wir sitzen im Park in Petroșani, der größten Stadt der Region, auf einer Bank. „Ich weiß ja nicht“, antworte ich, „aber der Gedanke ist auf jeden Fall süß!“ Alex und ich kennen uns seit etwa einem Jahr, sie war da gerade 18 Jahre alt geworden. Zu diesem Zeitpunkt saß ich aufgrund des Lockdowns an meinem Computer in Hamburg, sie in ihrem Kinderzimmer in Petroșani. Sie nahm sich Zeit für ein Zoom-Interview mit mir, nachdem ich ihren Kontakt von einem lokalen Aktivisten erhalten hatte. Also gerochen hatten wir uns in dem Moment bestimmt nicht. Bis wir uns im Juli 2021 persönlich kennenlernten, hatten wir per WhatsApp Kontakt gehalten und uns immer mal wieder in Zoom-Treffen gesehen. Mittlerweile hat sie Abitur gemacht und ist zum Studieren in die Niederlande gezogen. Dort will ich sie bald besuchen. Doch Alex hat recht: Wir konnten uns von Anfang an „gut riechen“, und über die Monate haben uns die kleineren und größeren Updates über Schule, Prüfungen, Beziehungen, Eltern, Pandemie einander nähergebracht. Zudem mögen wir ähnliche Serien und Bücher, wir haben sogar ein paar Insiderwitze. Ich habe ihren Vater und ihre Hunde kennengelernt, mit ihrer Clique bei einem Bier zusammengesessen und bin dabei gewesen, als sie sich von ihnen verabschiedet, um in die Niederlande zu ziehen. Ihr Freund:innenkreis stellt eine Rarität in diesem konservativen Tal dar: geoutet lesbisch, nicht-binär, trans, schwul, bi. Viele von ihnen sind nicht bei ihren Eltern geoutet, aber in ihrem „inner circle“. Ich darf Alex auf ihrem persönlichen Weg begleiten, aber erhalte auch Einblick in einen marginalisierten und unterrepräsentierten Teil der Bevölkerung des Jiu-Tals. 


Addet mich auf Insta!

„So in what language is the interview?“ Ich runzle die Stirn: „Na, wie du dich am wohlsten fühlst, Rumänisch vielleicht?“ „Ach so, puh.“ Ruxandra lacht ein bisschen verschämt. „Ich habe dein Instagram-Profil durchgeschaut, und in einer deiner Stories liegt ein Interviewbogen vor dir, ich war neugierig und habe heran gezoomt und der ist auf Deutsch!“ Ich freue mich über Ruxandras Neugier, denn genau dafür ist mein Instagram-Account da: Neugierde wecken, sich ein bisschen vorbereiten können auf die Forscherin, die Deutsche, die man für ein Interview trifft.
Ich stelle mein Projekt mit einem kleinen Vortrag in verschiedenen Abschlussklassen im Tal vor. Am Ende frage ich immer, ob jemand bereit wäre, ein Interview mit mir zu machen, und verweise auf mein Instagram-Profil, das ich im Januar 2020 zunächst angelegt habe, um während meiner Online-Forschungsphase Kontakte zu finden und zu halten. Seitdem poste ich kleine Sachen aus meinem (Forschungs-)Alltag, ein wenig über meine Methodik, meist in einem eher witzigen Ton. Mein Ziel ist es, erreichbar zu sein, Transparenz zu bieten und auch nach der Forschung meinen Gesprächs- und Forschungspartner:innen niederschwellig Zugang zu meinen (Teil-)Ergebnissen zu ermöglichen. Über den Account schaffe ich es, halbwegs darüber auf dem Laufenden zu sein, was meine Gesprächspartner:innen so treiben, was sie interessiert und andersherum. Diese gegenseitige Neugierde hilft, das Eis zu brechen, Gesprächsthemen zu finden und sich vielleicht auch ein bisschen schneller wohlzufühlen in der ungewohnten Interview-Situation mit einer Fremden.


Immunität

„Ich will als Ungeimpfte nicht diskriminiert werden. Ich glaube an das Virus, aber ich denke, es wird übertrieben, ich habe da meine eigenen Nachforschungen angestellt.“ Bei diesen Worten bildet sich mir ein Kloß im Hals. Die Corona-Fallzahlen sind in Rumänien zu diesem Zeitpunkt so hoch wie nie, jeden Tag sterben hunderte Menschen, während nur ein Drittel der Bevölkerung geimpft ist. Ich muss eine ganze Menge Ärger und Frustration herunterschlucken, bevor ich Sara antworten kann: „Das sehe ich ganz anders, ich denke, da werden wir nicht übereinkommen.“ Ich hätte noch viel mehr zu sagen, doch ich sage es nicht. Denn Sara und ich arbeiten zusammen, wir kooperieren. Ich mache zwei Monate teilnehmende Beobachtung in der NGO Fără Limite, in der sie arbeitet. Teilnehmende Beobachtung ist eine zentrale Methode der Ethnologie. Hierbei nehmen Forschende über einen langen Zeitraum an Aktivitäten, Treffen, Prozessen teil und dokumentieren das im Feldtagebuch. Dies passiert mit dem Wissen und Einverständnis aller Anwesenden und Teilnehmenden. So erhält man häufig besonders tiefgehende Einblicke und Daten zu einem Thema. Sara betreut das Bildungsprogramm von Fără Limite, und wir gestalten über zwei Monate hinweg zusammen die zweiwöchentlichen Unterrichtsstunden für eine Gruppe Jugendlicher. Und ich finde Sara in ihrer Arbeit bewundernswert: Wenn Scharen von Kindern zu allen Uhrzeiten – außer zur richtigen – an die Tür der Kirche hämmern und irgendetwas von „Frau Sara! Frau Sara!“ wollen, weiß sie genau, wem sie was sagen muss. Sie weiß, wer wann einen Test hatte, fragt nach, ermutigt, erklärt, hilft bei den Hausaufgaben, liest vor, hört zu. Und all das mit einer Engelsgeduld. Das sind Dinge, die in vielen Familien und Schulen nicht selbstverständlich sind. Doch über einiges reden wir nicht. Ich vermeide aktiv Themen, und ich denke auch, dass Sara dies tut, um unseren funktionierenden, produktiven Status quo zu halten. So ärgern wir uns vielleicht mal über die jeweils andere, aber wir lernen voneinander – eben nur nicht über Impfungen.


Ein Freund

Zusammen schauen wir auf Petroșani herunter: Da ist das Krankenhaus, da ist die Universität, da ist die Mine Livezeni, da ist das Vâlcan-Gebirge, da weiden Schafe… Neben mir im Gras sitzt Edi: Soziologie-Doktorand, Gerne-Diskutierer, ein echter Freund und eine Stütze während der Zeit im Jiu-Tal. Er engagiert sich in den lokalen NGOs, und als ich diese im Herbst 2020 per E-Mail kontaktierte, da antwortete er mir. Bis zum Sommer 2021 hielten wir per WhatsApp und Skype Kontakt. Wir tauschten uns zu unseren Promotionsthemen aus, er konnte mir Vor-Ort-Einschätzungen geben und teilte mit mir sein reiches Wissen über seine Heimatregion. Dieser Kontakt wuchs bereits online zu einer Freundschaft heran, und so ist es dann auch offline, vor Ort, weitergegangen: Ausflüge in die spektakuläre Natur des Jiu-Tals, Spaziergänge durch Petroșanis Fußgängerzone, viele gute Gespräche und Diskussionen. Nicht nur inhaltlich ist Edi für mich und meine Feldforschung wichtig. Die Arbeit bereitet mir große Freude, ist aufregend, bereichernd, doch ich bin auch oft frustriert, gestresst, bedrückt wegen der pandemischen Lage oder habe Heimweh. In den schwierigen Momenten kann ich auf eine Umarmung, Ratschläge und Ablenkung von Edi zählen. Diese zunächst rein fachliche Beziehung ist zu einer echten Freundschaft geworden, die ich brauche, um eine ausgeglichene Forscherin zu sein.


Epilog

April 2022, zurück in Hamburg: Die Forschungszeit, geprägt vom Planen, Umplanen, Vernetzen, Erleben, Beobachten, Dokumentieren, ist zum allergrößten Teil abgeschlossen. Nun folgen die Monate der Promotion, die weniger von den neuen Beziehungen und Begegnungen mit Menschen aus dem Jiu-Tal geprägt sein werden. Die Daten werden nun von mir in Hamburg ausgewertet, reflektiert und eingeordnet. Doch das bedeutet – zum Glück – nicht einen totalen Abbruch der Verbindung ins Tal. Mit einigen jungen Erwachsenen (und natürlich Edi) halte ich weiterhin Kontakt, ich pflege meinen Instagram-Account, und jährliche Besuche im Tal sind fest eingeplant. Auch wenn mein Arbeitsalltag jetzt grundlegend anders aussieht, kreisen meine Gedanken nun in der Analyse weiterhin um die Menschen aus dem Jiu-Tal und unsere Begegnungen.


[1] Um die Anonymität und Privatsphäre meiner Gesprächspartner:innen und Kontakte zu schützen, benutze ich in Absprache mit ihnen Pseudonyme. Außer für Edi, er heißt wirklich so.

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Was für eine spannende Forschung, Hannah! Und es ist so schön zu sehen, mit wie viel Empathie du den Menschen begegnest. Das kann ich mir nur zum Vorbild nehmen :) Noch viel Glück und natürlich auch ganz viel Erfolg für die nächste Zeit und die Promotion! M.

Anonym
5. April 2022

Liebe Hannah, Ich finde es mutig und spannend was du dort tust. In eine ganz andere Welt als die eigene einzutauchen und zu versuchen Menschen zu verstehen ist vielleicht der Schlüssel, uns Menschen insgesamt einmal irgendwann zu verstehen. Es braucht viele Menschen wie dich. Ich wünsche Dir viel Erfolg

Claudia aus Düsseldorf
7. April 2022