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#Kultur

ROT

Lisa Florentine Schmalz, Sängerin, Musiktheatermacherin und Kuratorin

2021 schrieb die Claussen-Simon-Stiftung unter dem Motto „Kunst schafft Perspektive“ den Claussen-Simon-Fonds für Kunst- & Kulturschaffende aus, und ich beschloss, mich zu bewerben. Meine werten und geschätzten Freund*innen und Kolleg*innen Pauline Jacob und Martin Mutschler waren sofort an Bord. Anhand von Richard Wagners Oper „Die Walküre“ wollten wir uns mit gesellschaftlichen (Nicht-)Privilegien beschäftigen und die Aspekte Geschlecht, Klasse, Abilities und Race in den Blick nehmen. Wir stellten uns die Frage: Wie können wir durch Privilegien legitimierte Hierarchien überwinden, und welche Rolle spielt Wotan dabei?

Die Förderzusage der Claussen-Simon-Stiftung für unser Hörspiel erreichte uns im Juli 2021, ein Jahr später stellten wir das Hörspiel "ROT" fertig. In der Zwischenzeit ist viel passiert: Ich bin nun auch Mutter eines Sohnes. Außerdem herrscht seit dem 24. Februar 2022 Krieg in der Ukraine. Und Wagner rückte in den Hintergrund.

Aber der Reihe nach: 
Kurz nach meinem Mutterschutz begannen wir, Martin Mutschler, Pauline Jacob und ich, im Herbst 2021 mit der inhaltlichen Konzeption. Wir sprachen über Wagner und Privilegien. Schnell war klar, dass die Reibung an Wagner groß werden würde und dass die Beschäftigung mit sozialer Ungerechtigkeit und der eigenen Positionierung eine sehr persönliche und unbequeme werden würde.
Dann kam der 24. Februar 2022 und damit der Beginn des Krieges in der Ukraine. 
Wir alle waren schockiert und paralysiert: ein Krieg so nah in Europa, so undenkbar und brutal. War es unser neues Leben als junge Eltern, weshalb uns die Bilder der flüchtenden Menschen besonders berührten? Denn plötzlich sahen wir die Bilder mit anderen Augen: Bilder von Kindern, die in U-Bahn-Schächten geboren wurden, von Kindern, die auf Trümmern spielten, von Müttern, die die Flucht alleine mit ihren Kindern bewältigen mussten, von Vätern, die der Krieg verschluckte. Und mit jedem Tag fühlte sich unser Alltag als junge Familie auf dem Spielplatz, am Küchentisch, in der Badewanne wie ein unverdient gewonnenes Losglück, wie ein riesiges Privileg an. Und es war klar: Dies sollte der inhaltliche Kern des Hörspielprojektes sein, ein abstrahiertes Gespräch zweier junger Frauen, die nicht nur ihre neue Lebenssituation als junge Mütter, sondern auch das Leben in der Ambivalenz von einem Leben im Frieden reflektieren, während man den Kriegsberichten im Radio lauscht. Wir entschlossen uns, dies ganz ins Zentrum zu stellen, dafür eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln und die Beschäftigung mit Wagner beiseitezulassen. Noch immer sollte also die Beschäftigung mit Privilegien inhaltlich im Zentrum stehen, jedoch eben in Bezug auf die aktuelle Weltlage und nicht mehr in Reibung mit dem Opernkanon (das Projekt folgt vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt!).
Im April und Mai 2022 entstand dann der Text des Hörspiels. Dafür gab es zunächst eine Reihe von langen Telefonaten – dann machte Pauline einen ersten Aufschlag. Pauline und ich arbeiten seit vielen Jahren miteinander – unsere Arbeit ist von großem Vertrauen und dem Wissen um die gegenseitigen Interessen und ästhetischen Prinzipien geprägt. Hier sei, für den inhaltlichen Kontext auch kurz angemerkt, dass das Hörspiel unter unserem neuen Kollektivnamen erscheinen wird: Das feministische Musiktheaterkollektiv staatsoper24 wurde von Pauline und mir gegründet; wir suchen in unseren Musiktheaterperformances, Ausstellungen und musikalischen Hörspielen nach zeitgemäßen und weiblichen* Formen von Oper. Wir lassen musikalische und darstellerische Genregrenzen verschwimmen und schaffen künstlerische Arbeiten, die neben allem theoretischen Unterbau zugänglich und unterhaltsam bleiben. Diese Gedanken hatten wir auch bei der Arbeit an dem Hörspiel im Hinterkopf … Doch wo war ich stehengeblieben … Der erste textliche Aufschlag kam von Pauline. In einigen Korrekturrunden gingen Martin und ich über den Text. Zuletzt schrieb Martin eine kleine textliche Coda – quasi als Antwort einer „zweiten“ Person.  Dies war uns wichtig, um den inhaltlich, wie ästhetisch singulären Fokus des Monologs davor um eine zweite Perspektive und Stilistik zu ergänzen und dem Hörspiel außerdem die Klammer eines Freundinnendialogs zu geben. Ein Impuls für diese Coda war textlich dabei unter anderem das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von B. Brecht.
Dieser stilistische Bruch ist übrigens auch in der Musik zu finden, womit ich mich jetzt der klanglichen Ebene zuwende.
Für die musikalische Komposition konnten wir den Musiker Chris Lüers gewinnen, von dem ich wusste, dass er unterschiedliche Erfahrungen im Theaterkontext hat und sehr daran interessiert war, endlich auch sein erstes Hörspiel zu produzieren. Sein Hintergrund als Jazz- und Popmusiker erschien mir für die musikalische Richtung sehr gewinnbringend. Am Anfang des Prozesses überlegten wir noch wild hin und her, ob Wagner, wo er inhaltlich nun schon herausgefallen war, nicht doch musikalisch abstrahiert auftauchen könne – am Ende entschlossen wir uns dann aber, dieses Fass auch aufgrund der sensiblen Kriegsthematik, die in unserem Text vor allem am Ende auftaucht, nicht aufzumachen, den Walkürenritt Walkürenritt sein zu lassen und ganz eigene Musik zu entwickeln. 
Chris und ich nahmen zunächst den Text ganz pur im Studio auf. Die musikalische Komposition entstand dann als ergänzende Ebene im – gar nicht so stillen – Kämmerlein. Ganz zuletzt kamen die Audioaufnahmen der Teile dazu, die Pauline eingesprochen hat.

So entstand im Juni und Juli 2022 das Hörspiel ROT …

Rot. Knallrot mit Punkten und auf jeden Fall unangenehm. Die Haut meines Babys ist knallrot. Es hat Kiwi gegessen. Danach hat es die ganze Nacht geschrien. Es hat geschrien, und meine Nerven liegen blank … Rot sind auch meine Fingernägel … Und Rot ist die Farbe, die ich benutzen würde, wenn ich den allgemeinen Zustand der Welt beschreiben müsste …
ROT ist ein Hörspiel zwischen Freundinnendialog und Popmusik, zwischen Wunder Po-Babygeschrei-Chaos und Cappuccino-Vogelgezwitscher-Entspannung und der Frage, welche Heilung unsere wunde Welt gebrauchen könnte. Wie können wir den Berichten über Krieg im Radio lauschen, während wir uns am Küchentisch die Nägel lackieren?! ROT reflektiert anhand der alltäglich-chaotischen Lebensrealität zweier junger Mütter, zwischen Wickeltisch und Spielplatz, die Überforderung des zufälligen Lebenslotterie-Glücks eines Lebens im Frieden. Denn dass Krieg ist, pfeifen die Spatzen vom Dach. Heißt auch: Ich hab‘ mich schon gewöhnt. Es wird hier viel gepfiffen. Und zufällig bin ich verschont. Ich weiß auch das. Sonst aber – weiß ich wenig.


ROT
Ein musikalisches Hörspiel mit staatsoper24
Konzept & Text: staatsoper24
Musik und Aufnahme: Chris Lüers
Dramaturgie und Textarbeit: Martin Mutschler

Gefördert durch die Claussen-Simon-Stiftung


Lisa Florentine Schmalz ist Sängerin, Musiktheatermacherin und Kuratorin. Gemeinsam mit Pauline Jacob ist sie Mitbegründerin von staatsoper24.

Pauline Jacob arbeitet als Sängerin/Performerin und Musiktheatermacherin in den Grenzbereichen der Oper. Gemeinsam mit Lisa Florentine Schmalz ist sie Mitbegründerin von staatsoper24.

Martin Mutschler ist Dramaturg (derzeit an der Staatsoper Hannover) und Regisseur, aber auch als Übersetzer und Librettist tätig.

Chris Lüers ist Jazzmusiker und arbeitet darüberhinaus als Bühnenmusiker und musikalischer Leiter an verschiedenen Theatern.

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