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#Coronazeit #Kultur #waszählt!

Wovon träumt ein Konzerthaus?

Anna Neubert, Geigerin & Konzertregisseurin, stART.up-Alumna

Was könnte die Entstehung neuer digitaler musikalischer Darbietungsformen mehr begünstigen als das (temporäre) Verbot etablierter analoger Darbietungsformen?

Vielleicht werden Musikwissenschaftler:innen der Zukunft Doktorarbeiten schreiben über die Flut an Konzert- und Musikvideos, die digitalen Opernproduktionen und interaktiven Zoom-Konzerte, die in den Jahren 2020 und 2021 entstanden sein werden.

Wie schön wäre es, wenn dann etwa folgendes Resümee gezogen werden könnte: 

„Während der überwältigende Anteil der digitalen Konzertformate in den Jahren 2020-2021 schlicht abgefilmte Konzertmitschnitte waren, lässt sich doch feststellen, dass in dieser Situation erstmals eine ernsthafte Auseinandersetzung mit interaktiven, immersiven, augmentativen digitalen Konzertformen in größerem Maßstab stattfand, die in der Handhabung der Technologien zwar an die ersten Versuche mit dem Medium Film Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert, die letztendlich aber zu der selbstverständlich hybrid digital-analogen Konzertpraxis geführt hat, wie wir sie heute erleben.“

Winter 2020/21:

Mit uBu, Ensemble für neue Konzertperformances, bestehend aus Musiker:innen, Tänzer:innen und einer Kostümkünstlerin, recherchieren wir dank eines Stipendiums seit einigen Monaten zu der Frage, wie unsere Arbeit losgelöst vom Privileg des Live-Erlebnisses zu denken ist. Mit dem neuerlichen Lockdown und Veranstaltungsverbot stellt sich diese Frage jetzt wieder besonders dringlich. 

Gleichzeitig schwebt uns das Bild eines Konzerthauses vor, das verlassen von Musiker:innen, Publikum und Personal in einen Winterschlaf verfällt und vor sich hin träumt. 

Freundlicherweise stellt uns die Kölner Philharmonie – die in Wirklichkeit gar nicht so verlassen ist, sondern in der weiterhin Probenbetrieb stattfindet – ihre Räume zur Verfügung, um hier drei kurze 360°-Videos zu drehen. 

Ein Hauptinteresse von uBu ist es, aktuelle Musik als körperliches und soziales Ereignis erlebbar zu machen, das 360°-Format scheint uns dafür besondere Chancen zu bieten: Es suggeriert visuell und auditiv einen Raum, in dem sich die Betrachter:innen und Zuhörer:innen unwillkürlich bewegen, um Klängen und Bewegungen zu folgen oder in dem sie bewusst einen bestimmten Blickwinkel auswählen.

Anknüpfend an uBus Repertoirestücke „Présence“ von Bernd-Alois Zimmermann und „Calling Sirens“ von Huihui Cheng sowie an musikalisches Material, mit dem wir während der Recherche gearbeitet haben, entstehen so drei kurze 360°-Musikvideos, die zur Erkundung des Konzertsaals, des Foyers und eines Backstage-Raumes in die Kölner Philharmonie einladen.

Im Frühjahr 2021 teilen wir die entstandenen Videos schließlich auf Facebook und YouTube.

Gelingt es den 360°-Videos, ein körperliches Musikerlebnis zu ermöglichen? Wird ein musikalischer zwischenmenschlicher Raum erfahrbar? Erst einmal ist es recht unbefriedigend, dass es viele technische Voraussetzungen dafür gibt, dass ein:e Betrachter:in die Videos so erleben kann, wie sie gedacht sind: Es bräuchte idealerweise eine VR-Brille, zumindest aber ein Smartphone oder Tablet mit Youtube- oder Facebook-App und in jedem Fall Kopfhörer, damit man sich mit und in den Videos bewegen kann.

Durch den fixierten Standpunkt von 360°-Kamera und 360°-Mikrofon kann man sich im Video nur drehen, zwar erlebt man die wechselnden Distanzen zu Körpern und Klangquellen im Raum deutlich, kann aber nicht selbst die Distanzen verändern. Bei wenigen beteiligten Akteur:innen und Klangquellen fühlt man sich stärker durch das Video geführt, hier ist dann bei der Konzeption eine stärkere musikalisch-choreografische Raumdramaturgie gefordert, die die Drehrichtungen der Betrachter:innen mitdenkt. Bei mehr Akteur:innen und Klangquellen überlagern sich die verschiedenen Bewegungsrichtungen, was für die Betrachter:innen spannend, aber auch überfordernd sein kann. 

Es erreichen uns viele, unterschiedlichste Rückmeldungen zu den Videos, die deutlich machen: Das ist der Anfang einer Auseinandersetzung mit diesem Format, der verfolgt werden will.

Ganz sicher wäre ein Projekt wie das oben beschriebene ohne Corona nicht entstanden: 

In der Zeit vor Corona hätte es kaum ein Stipendium wie das Reload-Stipendium gegeben, das uBu die Vorarbeit und Umsetzung der Videos finanziert hat, in einer Zeit vor Corona wäre es sicher undenkbar gewesen, auf kurzfristige Anfrage hin die Räume der Kölner Philharmonie für Videodrehs zu nutzen. Und schließlich wäre der Anreiz, sich mit 360°-Videos zu beschäftigen, für uBu sehr viel geringer gewesen. 

Im Moment öffnen überall Konzerthäuser und Theater wieder, womöglich wird der berechtigte, verständliche Hunger nach Live-Erlebnissen die digitalen Experimente bald erst einmal wieder in Vergessenheit geraten lassen – wo sie ja gerade noch in den Kinderschuhen stecken? 

Für uBu wären nächste spannende Schritte, neue Kompositionen für 360°-Konzertvideos in Auftrag zu geben, mit vielen beweglichen 360°-Kameras parallel zu arbeiten, 360°-Videos in Live-Konzertperformances zu integrieren, durch 360° Projektionen oder VR-Brillen und eine neue Konzertperformance gleichzeitig als Live-Event und als 360°-Video zu konzipieren. Die im Zuge der Corona-Pandemie neu erworbene Offenheit und Sensibilität des Publikums für neue – technische – Formate wird dafür hoffentlich die Möglichkeiten schaffen, sodass live, hybrid und virtuell zukünftig vielleicht gleichberechtigte Angebote der Konzertwelt werden können.


Videos auf Youtube: 

Rondo - Wovon träumt ein Konzertsaal
Calling Sirens - Wovon träumen Künstler*innen?
Présence - Wovon träumt das Publikum?  


Fotot: Rikisaburo Sato

YouTube-Video

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