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#Kultur

Der Blick in eine vergangene Zeit: Fensterstücke

Malina Raßfeld, Bühnenbildnerin und stART.up-Alumna

Für meine Arbeit als Bühnenbildnerin ist der Blick durch den „Rahmen“ des Theaterportals auf die Bühne ein ganz zentraler. Diese Faszination für Fenster war auch der Ausgangspunkt meiner künstlerischen Idee. Das zweite Förderjahr des stART.up-Stipendiums verbrachte ich damit, meine Projektserie „Fensterstücke“ vorzubereiten. Im September 2021 zeigte ich schließlich die erste Arbeit in einem leerstehenden Geschäft in der Horner Landstraße 196 in Hamburg-Horn.

Für mein Vorhaben wollte ich den theatralen Moment des hell erleuchteten Fensters auf der nächtlichen Straße nutzen, um in leerstehenden Ladengeschäften ein visuelles Erlebnis für vorbeieilende Passant:innen zu erschaffen. Die „Fensterstücke“ laden dazu ein, die städtische Umwelt, in der wir uns tagtäglich bewegen, auf eine neue Weise zu erleben und zu reflektieren sowie ausgewählte Orte und ihre Geschichten kennenzulernen. Ich habe das Projekt als mehrjährige Serie angelegt und möchte es nach dem ersten Pilotprojekt an verschiedenen Orten innerhalb Hamburgs weiterführen. Die von Yulia Wagner gestaltete Webseite www.fensterstuecke.de liefert dabei wie eine Art Programmheft Hintergrundinformationen zum Gesehenen und vernetzt die Einzelprojekte innerhalb der Stadt. QR-Codes an den jeweiligen Schaufensterscheiben leiten die Passant:innen direkt auf die Webseite.

Bei meiner Suche nach einer interessanten Geschichte in den Stadtteilen Hamm und Horn stieß ich auf die ambivalente Biografie von Anna Lühring, die viele Jahre ihres Lebens in Horn verbracht hatte und heute auf dem Hammer Friedhof begraben liegt. Die siebzehnjährige Anna Lühring verließ am 14. Februar 1814 in Kleidern ihres Bruders das Elternhaus, um sich unter dem Namen Eduard Kruse dem Lützower Korps anzuschließen und in den Befreiungskriegen gegen die Vorherrschaft Frankreichs unter Napoleon Bonaparte zu kämpfen. Die Motive, die sie zu diesem drastischen Schritt bewogen hatten, sind heute nicht bekannt. Nach einer kurzen Zeit des Heldinnenruhms, die jedoch nicht lange währte, verbrachte sie den Großteil ihres Lebens verwitwet, verarmt und vereinsamt in einer kleinen Wohnung in der Horner Landstraße. Diese Wohnung und die in Lührings Nachlassdokument verzeichneten Gegenstände dienten mir als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit den stereotypen Geschlechterrollen der friedfertigen Frau und des kriegerischen Mannes.

Die installative Arbeit in der Horner Landstraße 196 zeigte einen fiktiven, aber bis ins Detail zeitgerechten Nachbau ihres Wohnraumes, der durch die Fensteröffnung von der Straße aus einsehbar war. Mit einem Augenzwinkern sollte diese Arbeit an Nachbauten in Heimatmuseen erinnern, wobei die historische Exaktheit in meinem Ansatz nebensächlich war. Vielmehr ging es mir darum, mich der Person Anna Lühring über den Raum und die Gegenstände darin zu nähern. Lebensräume als intime Orte üben eine voyeuristische Faszination aus. Sie bleiben Fremden meist verborgen, da sie Rückzugsorte vor der Öffentlichkeit sind und allzu Privates erzählen.
Der von mir nachgebaute Raum war über 30 Jahre lang der Rückzugsort für Anna Lühring und zugleich auch der Ort ihres Verschwindens nach ihrem kurzzeitigen Ruhm. Ein Raum des Privaten, Häuslichen, Weiblichen. Indem ich diesen Raum ausstelle, mache ich das lange Zeit Unsichtbare sichtbar. Aus dem Staatsarchiv Hamburg erhielt ich eine Liste ihrer Besitztümer, eine Art Inventar zum Zeitpunkt ihres Todes. Diese Liste ist erstaunlich knapp: Sie beinhaltet ausschließlich Gegenstände des praktischen täglichen Gebrauchs wie kleine Möbel, Geschirr, Kleidung und Wäsche. Ich fing an, entsprechende Objekte zu sammeln und mich mit ihnen zu beschäftigen. Dabei stellte ich mir die Bedingung, ausschließlich die Gegenstände auf der Liste zu benutzen.
Die entstandene Rauminstallation stellte zwar einen Wohnraum dar, die darin befindlichen Gegenstände waren jedoch verfremdet. Sie waren nämlich in weißer Wäsche eingenäht. Die textile Handarbeit erzählt auf anschauliche Weise Zeit und andauernde Monotonie. Zudem steht Handarbeit auch symbolisch für das bürgerliche Frauenbild des 19. Jahrhunderts – die Nadelarbeit als Ausdruck von Häuslichkeit, Fleiß und Anstand. In meiner Arbeit nutzte ich diese Bilder und Assoziationen und übertrug sie durch die textile Einkapselung der Gegenstände in einen anderen, abstrahierten Erinnerungsraum.

Bereits während des Aufbaus der Installation wurde ich immer wieder von neugierigen Anwohner:innen angesprochen. In der Nachbarschaft hatte es bereits die Runde gemacht, dass in dem leerstehenden Geschäft eine Kunstaktion stattfinden sollte, und allein dies war schon sehr ungewöhnlich. Somit war bereits vor der Eröffnung der Ausstellung ein gewisses Interesse für die Aktion geweckt. Die Ausgangsidee, die Aufmerksamkeit der Passant:innen durch ein beleuchtetes Fenster bei Nacht zu wecken, löste sich im Verlauf der Ausstellung sehr schön ein. Immer wieder konnte ich Spaziergänger:innen beobachten, die zunächst am Fenster vorbeieilten, dann innehielten, die Installation betrachteten und schließlich den QR-Code scannten, um herauszufinden, was es mit diesem merkwürdigen Raum auf sich hatte. Neben den sehr diversen zufälligen Besucher:innen und den Anwohner:innen fand auch eine Seniorengruppe aus einem nahegelegenen Altenpflegeheim den Weg zu meiner Installation. Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über die Stadtgeschichte. Einige dieser Besucher:innen versicherten mir, dass sie noch nie von einer Anna Lühring gehört hatten, geschweige denn wussten, dass sie in ihrem Stadtteil einen Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Folglich konnte mein Projekt dazu beitragen, diese vergessene Frauenbiografie erlebbar zu machen und eine etwas andere Wahrnehmung der Umgebung zu fördern.

In Hinblick auf eine Projektweiterführung an anderen Orten kann ich mir gut vorstellen, in Zukunft vermehrt andere Künstler:innen einzubinden. Der theatrale Charakter meiner Arbeit lädt geradezu dazu ein, mit Choreograf:innen oder Regisseur:innen zusammenzuarbeiten und kleine performative Formate in Schaufenstern zu entwickeln. Auch Kollaborationen mit Musiker:innen und bildenden Künstler:innen sind denkbar. Der weiteren Entwicklung und Fortführung des Formats sehe ich motiviert und erwartungsvoll entgegen und hoffe, bald wieder einen Ort zu finden, dessen Geschichte darauf wartet, ergründet und gezeigt zu werden.

 

Foto: Malina Raßfeld

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